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Bergkarabach
Armenien und Aserbaidschan: Neue Gefechte in Bergkarabach

Kämpfe um Bergkarabach halten weiter an
Bergkarabach
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Seit dem 27. September halten die schweren Kämpfe zwischen dem aserbaidschanischen und armenischen Militär um die Region Bergkarabach an. Das Gebiet gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt. In beiden Ländern wurde das Kriegsrecht verhängt. Es gibt viele Tote und Verletzte, auch unter der Zivilbevölkerung und zehntausende sind auf der Flucht. Seit dem 10. Oktober gilt offiziell eine Waffenruhe. freiheit.org sprach mit dem Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für den Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann, über die aktuelle Situation.

freiheit.org: Seit dem 10. Oktober gilt eine Waffenruhe. Wie kam es dazu und hält der Waffenstillstand?

Nach zwei Wochen heftiger Kämpfe und vielen Mahnungen und Aufforderungen der internationalen Staatengemeinschaft, des UN-Sicherheitsrates, der Minsk-Gruppe der OSZE und anderer Organisationen, die aktuellen militärischen Auseinandersetzungen sofort zu beenden, kam nach 10-stündigen nächtlichen Verhandlungen der beiden Außenminister in Moskau eine Waffenruhe zustande. Der Vermittler war Russland, namentlich der russische Außenminister Sergei Lawrow. Die Waffenruhe sei vor allem eine humanitäre und solle somit dem Gefangenenaustausch und der Bergung von Getöteten und Verwundeten unter Aufsicht des Internationalen Roten Kreuzes dienen. Weitere Modalitäten sollen erst noch ausgehandelt werden.

Leider gehen die Kämpfe jedoch trotz der Waffenruhe weiter. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, den Waffenstillstand nicht einzuhalten. Besonders heftige Auseinandersetzung gab es unmittelbar vor der Waffenruhe um die Stadt Hadrut. Beide Seiten behaupten, die Stadt verteidigt bzw. erobert zu haben – und kämpfen weiter. Auch an anderer Stelle flammen die Gefechte immer wieder auf. Zivile Ziele sollen erneut auf beiden Seiten beschossen worden sein.

freiheit.org: Warum sind die Fronten zwischen den zwei Seiten so verhärtet?

Der armenische Premierminister Nikol Paschinyan hat in den vergangenen Tagen die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, Bergkarabach als unabhängigen (zweiten armenischen) Staat anzuerkennen. Das würde Tatsachen schaffen, die eigentlich Gegenstand von Verhandlungen sein sollten. Die aserbaidschanische Seite wird das nicht akzeptieren und beruft sich auf das internationale Völkerrecht, nachdem das Gebiet zu Aserbaidschan gehört. Arayik Haruyunyan, gewählter Präsident der – international nicht anerkannten – Republik Bergkarabach (auf Armenisch: Artsakh) hat in der de-facto-Hauptstadt Stepanakert jedoch eindeutig erklärt, dass sich die Region niemals unter aserbaidschanische Hoheit begeben würde. Und das ist auch die Linie der armenischen Regierung in Jerewan. Somit scheint kein Ausweg in Sicht zu sein.

Die Armenier sehen sich im Kampf um ihr Überleben und befürchten die Vollendung des 1915 begonnenen Genozids durch die Türkei, die Aserbaidschan unterstützt. Zusätzlich wähnen sie sich im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, da auf aserbaidschanischer Seite auch syrische Söldner – Armenien spricht sogar von Dschihadisten des Islamischen Staates – kämpfen sollen. Außerdem macht Armenien eine neue Allianz der Türkei nicht nur mit Aserbaidschan, sondern auch mit Pakistan aus, das hieße – aus armenischer Sicht - 300 Millionen gegen 3 Millionen. Die Angst davor ist groß und wird in den armenischen Medien wiederholt thematisiert.

freiheit.org: Steht die jeweilige Bevölkerung nach den bereits großen Verlusten nach wie vor hinter ihren Regierungen?

Die übergroße Mehrheit steht hinter ihren jeweiligen Regierungen. Der – man muss es schon Nationalismus nennen – ist auf beiden Seiten enorm groß, die jeweils andere Seite wird verteufelt. Nur wenige Stimmen sagen etwas Anderes. Ich sprach kürzlich mit einer jungen Aserbaidschanerin, die davon ausgeht, dass etwa zehn Prozent vor allem der jungen Bevölkerung in ihrem Land gegen den Krieg sind. Dafür gäbe es Belege in den sozialen Medien. Der Internetzugang ist jedoch zeitweise oder auch ganz gesperrt: Das betrifft vor allem Facebook und WhatsApp, wohingegen Twitter und Telegram funktionieren sollen. Belege für den zunehmenden Patriotismus kann man in beiden Ländern und unter vielerlei Hashtags finden, wie z.B. „#AzerbaijanAggression“ oder „#StopArmenianOccupation“ – es herrscht Hochkonjunktur für Trollfabriken, kann man annehmen. Meine Gesprächspartnerin sieht vor allem innenpolitische Probleme des autokratischen Systems des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew als Grund für die aktuelle Eskalation. Das eventuelle Beispiel des Widerstands der jungen Generation in Belarus könne gut mit der Kriegshysterie und den damit einhergehenden Internetbeschränkungen neutralisiert werden, mutmaßt sie. Aber auch traditionell oppositionelle Kräfte in Aserbaidschan unterstützen die Armee und damit auch Präsident Ilham Alijew. Die Oppositionsparteien in Armenien wiederum unterstützen ihre Regierung. Im Kriegszustand gibt es also keine politische Opposition, keine Kritik.

freiheit.org: Wie sind die Reaktionen im Nachbarland Georgien?

Georgien pflegt gute Beziehungen zu beiden Ländern und es leben große armenische und aserbaidschanische Minderheiten im Land. Eine weitere Eskalation der Kämpfe birgt damit auch ein innenpolitisches Konfliktpotential für Georgien. Die georgische Regierung will zur Deeskalation beizutragen, um den Frieden in der Region wiederherzustellen und hat sich mehrmals als Vermittler und Ort für neutrale Verhandlungen angeboten. Aber das politische Gewicht Georgiens ist wohl zu gering für diesen Konflikt, in dem vor allem Russland und die Türkei eine große Rolle spielen. Mit Blick auf die geografische Lage Georgiens malen politische Kommentatoren düstere Szenarien über mögliche Korridore von der Türkei nach Aserbaidschan und von Russland nach Armenien, die jeweils über georgisches Territorium führen müssten. Georgien hat aber eindeutig erklärt, keine Waffenlieferungen oder andere Militärtransporte über georgisches Territorium zuzulassen. Türkische LKW auf dem Weg nach Aserbaidschan wurden von Armeniern in Georgien blockiert, worauf Vertreter der aserbaidschanischen Minderheit drohten, den Transitverkehr nach Armenien zu verhindern. Die überwiegend in sozialen Netzwerken verbreiteten Vorwürfe armenischer Seite, Georgien würde Transporte von Treibstoff und Hilfsgütern blockieren, wurden in einer Stellungnahme der armenischen Botschaft in Georgien als falsch bezeichnet. Auch hat das georgische Außenministerium armenische Beschuldigungen, dass Waffen über das Territorium Georgiens nach Aserbaidschan gebracht werden als Fehlinformationen und Lügen zurückgewiesen. Georgien befindet sich derzeit im Wahlkampf – die Parlamentswahlen finden am 31. Oktober statt. Darauf hat der Konflikt bisher jedoch keinen Einfluss.

freiheit.org: Wie bewerten Sie die aktuelle Situation mit Blick auf Europa?

Ich befürchte, dass Europa und die EU den Konflikt nicht ernst genug nehmen. Er hat das Potential zum Flächenbrand zu werden. Auf aserbaidschanischer Seite ist die Türkei stark involviert und als Mitglied der „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ (OVKS) könnte Armenien wiederum mit dem militärischen Beistand Russlands und anderer post-sowjetischer Staaten rechnen. Russland wird seinen Einfluss auf den Südkaukasus nicht aufgeben und die Türkei will ihren Einfluss in der Region offensichtlich ausdehnen. Seit 1992 bemüht sich die Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter dem Vorsitz der USA, Frankreichs und Russlands erfolglos um eine Vermittlung in dem Konflikt. Auch andere diplomatische Vermittlungsversuche scheiterten am kompromisslosen Verhalten der Konfliktparteien. Es müssen vielleicht neue Verhandlungsformate oder ein international anerkannter neutraler Moderator oder Vermittler gefunden werden. Amtierende Regierungschefs kommen aufgrund mangelnder zeitlicher Kapazitäten eher nicht infrage, denn in diesem Konflikt wird wohl noch wochen- und monatelang extrem intensiv verhandelt und vermittelt werden müssen. Währenddessen scheint die Covid-19 Pandemie fast gänzlich in Vergessenheit zu geraten. Beide Länder verzeichnen relative hohe Fallzahlen und in Armenien nehmen die Infektionszahlen aktuell wieder stark zu. Die Gesundheitssysteme drohen unter der Last der Pandemie und des Krieges zusammenzubrechen.

freiheit.org: Was müsste aus Ihrer Sicht noch getan werden?

Neben der großen politischen Bühne muss auch viel mehr auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen getan werden. Armenier und Aserbaidschaner, insbesondere die Jüngeren, kennen und verstehen einander überhaupt nicht. Seit den 1990er Jahren gibt es de-facto keinerlei Begegnungsmöglichkeiten zwischen den Menschen beider Länder, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, wo NGOs in Georgien oder anderswo kleinere Plattformen des Austausches, dann aber meist nur für NGO-Eliten, anbieten. Ähnlich wie nach dem zweiten Weltkrieg in Europa müssten Austauschprogramme wie beispielsweise damals zwischen Deutschland und Frankreich in großem Umfang stattfinden. Schulklassen, Universitäten, Vereine und Verbände müssten sich treffen, austauschen und verstehen lernen. Zurzeit wollen das beide Länder wahrscheinlich nicht. Aber die EU könnte – beide Länder gehören ja zum östlichen Partnerschaftsprogramm der EU – hierzu Aktivitäten initiieren und zu Begegnungen erst einmal auf dem Boden anderer Länder einladen. In Zeiten der Corona-Pandemie natürlich kaum denkbar. Aber vielleicht schon planbar?