EN

Nachwahlbericht
„Israelische Verhältnisse?“ – Nach den Wahlen in Bulgarien

Bojko Borissow
© picture alliance / ZUMAPRESS.com | FashionPPS

Zwei Tage nach den Parlamentswahlen in Bulgarien herrscht Ungewissheit über die Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung – mit sechs Parteien im neuen Parlament ist die politische Landschaft des Landes zerklüfteter denn je. Der amtierende Ministerpräsident Bojko Borissow will weiterregieren – doch ob er das kann, ist mehr als ungewiss. Es wird bereits über Neuwahlen gesprochen.   

Nach den Wahlen ist vor den Wahlen

„Gibt es denn jemanden, der erfahrener ist als ich?“, fragte Borissow rhetorisch noch Sonntagnacht auf seiner Facebook-Seite. Die Antwort auf diese Frage war aus seiner Sicht eindeutig. Geht es nach ihm, sollte er als Ministerpräsident eine Expertenregierung anführen, die das Land bis Ende des Jahres erfolgreich aus der Pandemie herausführen soll. Schließlich wütet das Corona-Virus in Bulgarien gerade mit voller Wucht. Es ist nicht klar, ob Borissow schon eine Antwort oder Reaktion auf seine rhetorische Frage erhalten hat - seine Idee der Expertenregierung hat aber gewiss keine Begeisterung ausgelöst. Fast alle übrigen Parteien haben eine Zusammenarbeit mit GERB bislang kategorisch ausgeschlossen.

Im neuen Parlament wird es für Borissow und für jeden anderen Aspiranten auf das Amt des Ministerpräsidenten äußerst schwierig, eine mehrheitsfähige Koalition zu bilden – die Zeit der stabilen politischen Verhältnisse ist erstmal vorbei. Die zukünftige Zusammensetzung des bulgarischen Parlaments (Narodno Sabranie), mit drei „alten“ und drei „neuen“ Parteien, bietet allenfalls ein stark verschwommenes Bild, wer mit wem eine Regierung bilden könnte. Die Wahlen waren keine 48 Stunden her und schon wurde bereits über Neuwahlen orakelt: „Höchstwahrscheinlich bewegen wir uns hin zu baldigen Neuwahlen“, so Hristo Ivanov, ehemaliger Justizminister und Co-Vorsitzender der Allianz „Demokratisches Bulgarien“.

Tektonische Verschiebungen in der Parteienlandschaft

Die Wahl vom vergangenen Sonntag hatte gleich mehrere Überraschungen parat – doch sie waren nicht für alle Beteiligten positiver Art. Nach Angaben der staatlichen Wahlbehörde kommt die Regierungspartei GERB von Ministerpräsident Borissow nur noch auf knapp 26 Prozent der Stimmen. Auch wenn GERB weiterhin stärkste Kraft bleibt, ist der Automatismus der vergangenen Jahre, dass Borissow Ministerpräsident bleibt, nicht mehr da. Heftige Kopfschmerzen bereitet ihm zusätzlich das Scheitern der alten Koalitionspartner von den „Vereinigten Patrioten“ an der Sperrklausel von vier Prozent.

Auf Platz zwei kommt die Überraschung des Tages: die erst neugegründete Protestpartei „Es gibt so ein Volk“ des TV-Kabarettisten Slafi Trifonow mit 17,66 Prozent. Viele politische Beobachter vergleichen sie mit der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung und werfen der Partei fehlende Substanz vor. Da Trifonow, der politisch bislang ein unbeschriebenes Blatt ist, während der gesamten Kampagne nicht an politischen Debatten teilgenommen hat, ist unklar, wofür seine Partei – neben der Corona-Skepsis – überhaupt steht.

Die Sozialisten (BSP), die bisher größte Oppositionspartei, erleben hingegen ihr dunkelstes Kapitel. Die ehemalige Kommunistische Staatspartei kommt auf ein historisches Tief von 15 Prozent, schon fast ein politisches Bankrott. Die Vorsitzende Kornelia Ninova hat in einer ersten Reaktion einen Rücktritt ausgeschlossen.

Die formell liberale DPS, die hauptsächlich von der türkischen Minderheit gewählt wird und traditionell als Königsmacher der bulgarischen Politik gilt, kommt auf 10,5 Prozent und wird viertstärkste Kraft im neuen Parlament. Die DPS hat es mal wieder geschafft, die eigenen Reihen ganz eng zu schließen. Ein Vorteil hierbei war, dass sie bei diesen Wahlen quasi als alleiniger Vertreter der ethnischen Minderheiten auftreten konnte - sämtliche Rivalen aus den vergangenen Wahlen waren diesmal bereits im Voraus ausgeschieden.

Die Wahlallianz „Demokratisches Bulgarien“, die sich 2018 bildete und im Zuge der großen Proteste im vergangenen Sommer an Popularität gewann, kommt auf ein sehr gutes Ergebnis von knapp 9,5 Prozent und zieht somit ins Parlament ein. „Demokratisches Bulgarien“ hat vor allem in der Hauptstadt Sofia und in den übrigen Großstädten gut abgeschnitten. Über die Vierprozenthürde schaffte es mit knapp fünf Prozent auch die Liste „Richte dich auf! Mafiosi raus!“, eine weitere Protestpartei.

Das neue Parlament – ein Hauch des Protestsommers

Staatspräsident Rumen Radew wird laut Verfassung die stärkste Kraft damit beauftragen, eine mehrheitsfähige Koalition zu formieren. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob Borissow, der den Politikstil der geheimen Absprachen und Netzwerke wie kein anderer in Bulgarien beherrscht, in der Lage ist, eine stabile Regierung zu bilden. Doch die tiefen Gräben, die er in der Vergangenheit zum Teil selbst aufgerissen hat, machen diese Aufgabe schon fast zu einer „Mission Impossible“. Aufgrund der völlig unvereinbaren Positionen der meisten Parteien scheinen alle rechnerisch möglichen Optionen politisch undenkbar zu sein. Politische Beobachter appellieren bereits jetzt an die Vernunft und ziehen den Vergleich mit Italien, wo sich die Akteure in einer ähnlichen, scheinbar ausweglosen Situation auf Mario Draghi als neutrale Autoritätsperson geeinigt haben.

Die landesweiten Demonstrationen vom vergangenen Sommer, als tagtäglich tausende Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen gingen, hatten bereits mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass sich ein Großteil der Menschen ein demokratischeres und rechtsstaatliches Bulgarien wünscht. Mit GERB und der BSP werden bei diesen Wahlen zwei von drei Vertretern des alten, korrumpierten Systems abgestraft. Die DPS, die dritte Systempartei im Bunde, ist – mal wieder – gut davongekommen und kann sich hierfür bei ihrer linientreuen Wählerschaft bedanken.

Mit drei neuen Parteien, die allesamt erst im Zuge oder als Konsequenz der Proteste vom vergangenen Jahr überhaupt entstanden sind, ist die politische Landschaft des Landes vielleicht undurchsichtiger und instabiler als zuvor. Doch sie ist aber auch gleichzeitig reformorientierter. Die neuen Parteien werden den Geist der Proteste im vergangenen Jahr ins neue Parlament tragen und – so die Hoffnung – zu einem Wandel des alteingesessenen, klientelistisch-paternalistischen Systems führen. Dies sind sie ihrer Wählerschaft schuldig. 

Aret Demirci ist Projektassistent im Regionalbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Sofia.