Vorwahlbericht
Parlamentswahlen in Bulgarien - „Bojko“ will es nochmal wissen
Mit großer Mühe versuchen die Wahlkampfhelfer im zentralen Park Borissowa Gradina in Sofia, die vorbeilaufenden Bürgerinnen und Bürger zu einem Plausch zu locken und ihnen einen Flyer ihrer Partei in die Hand zu drücken. Doch dieses Unterfangen erweist sich als schwierig: die Sofioter wollen an diesem Tag eher das frühsommerliche Wetter genießen, statt sich mit Parteien und ihren Kandidaten herumzuschlagen. Dabei hat die letzte Woche vor den Parlamentswahlen am 4. April angefangen – es ist Endspurt für die Wahlkämpfer in Bulgarien. Doch irgendwie kommt die Wahlkampagne unter der Corona-Dauerschleife nicht in Fahrt. Man muss schon genau hingucken, um auf den Schnellstraßen der Hauptstadt überhaupt Werbeplakate der antretenden Parteien und ihrer Kandidaten erkennen zu können. Der Wahlkampf findet vornehmlich virtuell in den Sozialen Medien statt. Ministerpräsident Borissow zieht schon seit Langem vor, sich per Facebook-Videos vom Hintersitz seines Geländewagens zu melden. Politische Fernsehduelle sind Mangelware.
Wahlen unter Pandemiebedingungen
Die Pandemie hat sicher einiges dazu beigetragen, dass sich die Menschen im Moment wenig für Politik begeistern. Bulgarien durchlebt derzeit mit voller Wucht die dritte Welle: Inzidenzzahlen von mehr als 800 Infektionen pro 100.000 Einwohner sind mehr Regelfall als Ausnahme. Die bulgarische Corona-Landkarte ist durchgehend rot gefärbt, alle 29 Bezirke des Landes wurden zu Risikogebieten erklärt. Wenige Tage vor den Wahlen hat die Regierung abermals einen Lockdown beschlossen: Cafés, Restaurants, Schulen bleiben erstmal geschlossen. Politische Beobachter befürchten eine sehr niedrige Wahlbeteiligung. So niedrig, dass die Legitimität der Wahlen im Nachhinein angezweifelt werden könnte. Es wird auch ein logistischer Großeinsatz, den knapp 120.000 Bürgerinnen und Bürger, die sich am Tag der Wahlen wahrscheinlich als infiziert melden oder sich in Quarantäne befinden, ihr Recht auf Stimmabgabe zu gewähren.
Von der Aufbruchsstimmung vom vergangenen Sommer ist wenig übrig
Dabei war das ganze Land im vergangenen Sommer über Monate politisiert. Ein Skandal hatte dafür gesorgt, dass tausende Bulgarinnen und Bulgaren jeden Tag nach Feierabend zusammenkamen und für den Rücktritt der Regierung demonstrierten. Die Demonstranten warfen der Regierung und dem ganzen System vor, den Staat als Selbstbedienungsladen unter sich aufzuteilen. Borissow stand eigentlich schon mit dem Rücken zur Wand, sein politisches Ende schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Doch Borissow wäre nicht Borissow, hätte er diese Krise nicht irgendwie überlebt. Schließlich bringt der ehemalige Bodyguard alles mit, was man in der bulgarischen Politik eben braucht: Ausdauer, Finten, harte Bandagen und Nehmerqualitäten. Der erfahrene Politiker – Spitzname: Schädel – hat die Krise einfach ausgesessen. Heute, knapp acht Monate nach den Protesten, ist von der Aufbruchsstimmung vom vergangenen Sommer nur noch wenig übrig. Die Hoffnung auf Veränderung hat sich über den Winter stark reduziert. Umfragen von Mitte März besagen, dass nur 45-47 Prozent der Wahlberechtigten an diesem Sonntag von ihrem Recht Gebrauch machen wollen.
Denselben Umfragen zufolge muss die Regierungspartei GERB mit Einbüßen rechnen, kann aber mit 25-29 Prozent stark davon ausgehen, weiterhin stärkste politische Kraft im Land zu sein. Was aber bringt die Menschen dazu, weiterhin zu Borissow zu halten, jemandem, dem ständig vorgeworfen wird, sich durchgehend in der politischen Grauzone zu bewegen?
Die allermeisten Menschen würden bei ihren Antworten ganz sicher „Kontinuität“ aufzählen. In unsicheren Zeiten, wie während der jetzigen Pandemie, ist Kontinuität an sich schon ein großer Wert. Es ist ja auch eine ganz beeindruckende Kontinuitätsstatistik, die Borissow vorlegen kann. Seit er vor fast elf Jahren durchaus nicht nur zur allgemeinen, sondern auch zur eigenen Überraschung zum ersten Mal mit seiner Partei GERB die Wahlen gewonnen hat, kamen in Italien in derselben Zeit sieben verschiedene Ministerpräsidenten an die Macht. Und in Griechenland fünf (die kommissarischen nicht mitgerechnet). Mit der ständigen Drohung, die EU-Hilfen aus Brüssel würden im Falle einer Niederlage seiner Partei ausbleiben, spielt Borissow zudem geschickt mit den Ängsten der Wählerinnen und Wähler.
GERB siegt – und dann?
Die Frage nach dem Wahlsieger wäre also schnell geklärt. Doch das bedeutet nicht, dass diese Wahlen langweilig werden. Ganz im Gegenteil: Es bleibt die Frage, mit wem GERB überhaupt koalieren kann. Der ehemalige Koalitionspartner, die Vereinigten Patrioten, sind nicht mehr vereinigt. Die größte Partei dieser Allianz, die nationalistische IMRO, wird bei den Wahlen alleine antreten. Die Partei des Verteidigungsministers Karakachanov läuft dabei aber Gefahr, an der 4-Prozent-Hürde zu scheitern.
Neben der GERB werden mit Sicherheit die anderen beiden „Status Quo“-Parteien ins Parlament einziehen. Die sozialistische BSP, die Nachfolgepartei der ehemaligen Kommunistischen Staatspartei, wird Umfragen zufolge wenige Prozentpunkte hinter der GERB auf Platz zwei landen. Neben den kleinen Parteien wird die BSP Analysen zufolge am stärksten unter der geringen Wahlbeteiligung leiden, da ihre Wählerschaft zumeist aus älteren Menschen besteht. Die BSP bringt jedoch wenig Innovation und Inspiration in die Debatte, für die jüngeren Bulgarinnen und Bulgaren riecht sie mit ihrem Hang zur Nostalgie („Früher war alles besser“) sogar ein bisschen nach Männerstammtisch.
Die dritte Systempartei ist die formell liberale DPS, deren Wählerschaft hauptsächlich aus der türkischen Minderheit des Landes besteht. Zusammen mit der GERB kann die DPS von der geringen Wahlbeteiligung profitieren, da sie über eine sehr disziplinierte Wählerschaft verfügt. Ihr werden bis zu zwölf Prozent der Stimmen zugetraut.
GERB-DPS: für viele eine toxische Koalition
Zu den möglichen Regierungskoalitionen gehört die Konstellation GERB-DPS. Der Parteivorsitzende der DPS, Mustafa Karadayi, hat früh erklärt, dass er sich seine Partei in der kommenden Regierung wünscht. Um seine Bereitschaft mit Taten zu unterstreichen, hat sich Karadayi umstrittener Abgeordneter, allen voran des Medienmoguls Peevski, entledigt. Die DPS kann sich wie gewohnt auf eine stramm disziplinierte Wählerschaft sowie auf Stimmen aus der Diaspora, vornehmlich aus der Türkei, verlassen. Überdies genießt sie diesmal auch die Unterstützung des türkischen Präsidenten Erdogan. Eine Zusammenarbeit mit der DPS wäre für Borissow nicht einfach, denn für die meisten Bulgaren ist die DPS das größte anzunehmende politische Übel. Sie symbolisiert mit ihren nebulösen Machenschaften und ihrer fragwürdigen Nähe zu dubiosen Figuren das klientelistisch-paternalistische System des Landes. Nach mehr als zehn Jahren auf der Oppositionsbank will die Partei jedoch zurück an die Quelle der Macht – wobei es nie ganz klar war, ob die DPS durch „Hinterzimmer-Politik“ über die Jahre nicht doch irgendwie mitregiert hat.
Eine andere mögliche Option stellt sich Borissow mit der neugeschaffenen populistischen Partei „Es gibt so ein Volk“des TV-Showmans Slawi Trifonow. Auch wenn Trifonow bekanntgab, mit den Parteien des Status Quo, sprich GERB, BSP und DPS, nicht zu koalieren, befürchten nicht wenige, er könnte seine Versprechen nach der Wahl schnell begraben. Trifonow werden zwischen 13 und 15 Prozent der Stimmen zugetraut, womit seine Partei auf Anhieb drittstärkste Kraft im Parlament werden könnte. Für die DPS, die seit dem Übergang zur Demokratie 1990 stets die Rolle des Königsmachers innehatte, wäre dies eine schmerzliche Erfahrung.
Die Allianz „Demokratisches Bulgarien“, die aus der konservativen „Demokraten für ein starkes Bulgarien“, der liberal-zentristischen „Ja, Bulgarien!“ und den Grünen besteht, wird Umfragen zufolge als fünfte Partei mit großer Sicherheit ins Parlament einziehen. Das Wahlbündnis, dessen Fokus auf Rechtsstaatlichkeit und Reformen liegt, hatte als eine der Protagonisten der Proteste im vergangenen Sommer einen großen Zulauf, konnte jedoch diesen positiven Trend nicht aufrechterhalten. Das Bündnis wird sich in dem Spagat üben müssen, einerseits lautstark das Land verändern zu wollen, andererseits aber unter allen Umständen in der Opposition bleiben zu müssen, um seine Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren.
Borissow steht für Kontinuität, aber nicht für Wandel
Borissow, der politische Überlebenskünstler, wird mit großer Wahrscheinlichkeit Bulgarien noch einige Zeit erhalten bleiben. Er produziert täglich das Gefühl, seine Herrschaft sei letztlich alternativlos. Sein System stützt sich nicht auf die Mobilisierung, sondern auf die Demobilisierung der Massen. Er verlangt von seinen Bürgerinnen und Bürgern keine Loyalitätsbeweise, sondern Stillhalten und das Hinnehmen jener dunklen Geschäfte, ohne die das System Borissow nicht funktionieren kann. Die Suche der Menschen nach Stabilität und Sicherheit, insbesondere in Zeiten der Pandemie, und die Zersplitterung der Parteienlandschaft spielen der Regierung dabei in die Hände.
Aret Demirci ist Projektassistent im Regionalbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Sofia.