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Ampelkoalition
Agenda des Aufbruchs

Die Ampelkoalition bezeichnet sich als Bündnis des Fortschritts. Damit setzt sie sich selbst unter Druck. Das ist gut so.
Ampelkoalition
© picture alliance / Geisler-Fotopress | Jean MW/Geisler-Fotopress

In der 72-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es nur wenige große politische Wendepunkte gegeben. Dazwischen lagen lange Kanzlerschaften, die der Politik Stabilität und Verlässlichkeit gaben. Genau dies hat ja die Bonner und bisher auch die Berliner Republik von ihrer Weimarer Vorgängerin unterschieden: keine qualvollen Koalitionsverhandlungen und Zickzackkurse, keine schwachen Regierungen, die an jeder politischen Wegegabelung um ihre Mehrheit fürchten müssen, keine allzu verwickelten Machtspiele im Kabinett, die kein Mensch auf der Straße mehr nachvollziehen kann. Dies hat der Demokratie in Deutschland seit 1949 Glaubwürdigkeit verliehen, jedenfalls im Vergleich zur eigenen Vergangenheit und gelegentlich auch zu den Verhältnissen in anderen europäischen Nationen.

Stabilität und Verlässlichkeit haben allerdings ihre Grenzen. Sie laufen stets Gefahr, in einen arretierten Konservatismus zu münden, der nötige Reformen nicht anpackt. So war es eigentlich immer gegen Ende der großen Phasen politischer Stabilität. Nach 20-jähriger CDU-Herrschaft war 1969 die deutsche Gesellschaft reif für eine Modernisierung. Brandt und Scheel erkannten dies – mit ihren Parteien SPD und FDP im Schlepptau. Und es folgte eine 13-jährige Reform-Ära, die das Land grundlegend veränderte, außen- und innenpolitisch. Dabei blieben allerdings auch viele Träume auf der Strecke; und manches lief nicht so, wie man sich das vorgestellt hatte. So kam es zu einer wirtschaftlichen Wachstumsmalaise und einem harten Kampf gegen den RAF-Terror, den niemand voraussehen konnte. Finanzmisere und Nachrüstung lieferten schließlich 1982 den Anlass für den Wechsel zur CDU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl, die ebenfalls eine klar konturierte Agenda hatte: Konsolidierung des Staatshaushalts und Liberalisierung der Märkte. Da gab es dann auch beachtliche Fortschritte, aber auch hier kam alles anders als gedacht – durch die Deutsche Einheit als neue nationale Herausforderung. Kohl und Genscher gingen als große Staatsmänner in die Geschichte ein, aber die wirtschafts- und finanzpolitische Bilanz blieb unvollendet.

Nach 16 Jahren Kohl als Kanzler kam mit Gerhard Schröder und der rot-grünen Koalition 1998 wieder eine neue Agenda – mit beachtlicher ökologischer Grundausrichtung, die im ersten Erneuerbaren Energie Gesetz tatsächlich umgesetzt wurde. Aber auch hier lief ansonsten alles anders als erwartet: Schwaches Wirtschaftswachstum, hohe Arbeitslosigkeit und sozialpolitische Überforderung bahnten den Weg zu Hartz IV – und damit auch zum neuerlichen Wechsel der Kanzlerschaft. Angela Merkel übernahm 2005, wie wir heute wissen, für 16 Jahre das staatspolitische Ruder, aber sie legte dabei die Agenda ihrer Partei schnell ad acta, zumal das Krisenmanagement sie immer wieder forderte: Weltfinanzkrise, Euroschuldenkrise, Flüchtlingskrise und Coronakrise folgten aufeinander. Sie wurden alles in allem ordentlich bewältigt oder zumindest vernünftig „eingehegt“. Dabei lebte man allerdings bei zumeist sprudelnden Steuereinnahmen zunehmend von der Substanz. Zukunftsweisende Reformen waren nicht zu erkennen; im Gegenteil, es gab Sünden gegen die Generationengerechtigkeit, so etwa bei Rentengeschenken an ältere Bürgerinnen und Bürger zu Lasten der Jungen.

Es hat deshalb eine zwingende Logik, dass zum Ende des Jahres 2021 – endlich – eine neue Koalition eine ambitionierte und gehaltvolle Koalitionsvereinbarung abgeschlossen hat und sich unter der SPD-Kanzler Olaf Scholz auf den Weg zu Reformen macht. „The mess Merkel leaves behind“, so titelte der britische ECONOMIST am 25. September 2021 zur Bundestagswahl – ein Magazin übrigens, das größten Respekt vor der Lebensleistung der ehemaligen Kanzlerin hat. Aber die Defizite in der Bearbeitung der Zukunftsaufgaben wurden in den letzten Jahren einfach so eklatant, dass sie eine grundlegende Reformagenda erfordern. Dazu steht die Ampelkoalition bereit – mit einem klimapolitisch fundierten Innovations- und Wachstumsprogramm, das den Anspruch erhebt, die großen Herausforderungen kraftvoll und dynamisch anzugehen. Dazu zählen natürlich in erster Linie Klimaschutz und die demografische Entwicklung, aber auch die Bildungs- und Wissenschaftspolitik sowie all jene Instrumente staatlicher Rahmensetzung, die nötig sind, um möglichst alle Menschen in diesem Wandel mitzunehmen und niemanden abzuhängen.

An vielen Einzelheiten des Koalitionsvertrags lässt sich herumnörgeln. Und klar ist, dass nicht alle Ziele erreicht werden, die da „ins Fenster gestellt“ werden. Und noch klarer ist, dass im politischen Tagesgeschäft vieles ganz anders kommen wird, als alle zuvor denken. So war es auch bei Koalitionen in der Vergangenheit. Dann ist eben politische Improvisation verlangt, und zwar in einem kooperativen Geist. Mal sehen, ob dies klappt. Optimistisch stimmt dabei, wie der Koalitionsvertrag verhandelt wurde und zustande gekommen ist: diskret, effizient, zügig. Die Weichen sind also gar nicht so schlecht gestellt. Jedenfalls können sich die beteiligten Ampelparteien eines nicht leisten: den Rückfall in die Reformlethargie. Immerhin lautet der Titel des Koalitionsvertrags: „Mehr Fortschritt wagen“. Da entsteht schon gewaltiger Druck. Und das schweißt zusammen – bei allen weltanschaulichen Unterschieden, die bei SPD, Grünen und FDP mit Händen zu greifen sind. Also, liebe politischen Freunde: „Legt die Sicherheitsgurte an! Es wird eine holprige Fahrt. Aber die Richtung stimmt.“