Angriff auf den Wohlstand der offenen Welt
Rund um den Globus läuft derzeit ein Großangriff auf unseren Wohlstand. Populisten gewinnen Wahlen. Die Rhetorik wird schriller. Grenzen schließen sich, selbst in Europa. Die internationale Verflechtung der Wirtschaft wird nach und nach zurückgenommen. Vor diesem Hintergrund diskutierten Prof. Henrik Müller von der TU Dortmund und unser stellv. Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Paqué in Madgeburg.
"Wir stehen am Beginn einer De-Globalisierung, einer Entwicklung, die insbesondere für die deutsche Wirtschaft hochproblematisch ist, weil sie das bundesrepublikanische Geschäftsmodell infrage stellt. Es ist ungewiss, ob die exportorientierte Industrie, auf die sich dieses Land lange stützen konnte, auch künftig noch die tragende Säule des Wohlstands sein kann. Überall auf der Welt sind nationale Reflexe zurück. Parolen dominieren die Politik. Das Fiktive triumphiert über das Faktische. Breitbeinige Posen ersetzen komplexe Problemlösungen."
So lautet – zusammengefasst - die deprimierende Bestandsaufnahme von Henrik Müller, Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund, in seinem jüngsten Buch „Nationaltheater – Wie falsche Patrioten unseren Wohlstand bedrohen“. Ein gefährlicher und kostspieliger Irrweg, so Müller, den die (neuen) nationalen Bewegungen und Parteien da propagieren und beschreiten, denn sie werden kein einziges der großen Probleme der Gegenwart und der absehbaren Zukunft lösen, sondern - im Gegenteil - viele neue provozieren.
In einem spannenden Vortrag legte Müller im gut besuchten Theater der „Grünen Zitadelle“ in Magdeburg seine Sicht der Dinge dar, um im Anschluss mit dem stellv. Stiftungsvorsitzenden Karl-Heinz Paqué verschiedene Aspekte dieses hochaktuellen Phänomens vertiefend zu diskutieren. Dabei entwickelte sich ein so interessanter wie lehrreicher Gedankenaustausch mit übereinstimmenden wie kontroversen Sichtweisen und Schlussfolgerungen.
Das Mitlaufen im Strom hat sich als gewinnmaximale Strategie herausgestellt.
Müller machte deutlich, dass Globalisierungsphasen, die maßgeblich durch neue Technologien, offene Grenzen und liberale Politikansätze ihre Dynamik entfalten konnten, auch in der Vergangenheit immer mit populistisch-protektionistischen bzw. nationalistischen Ideologien und Bewegungen einhergingen. Die erste Globalisierung, die Müller von ca. 1870 bis 1914 datiert, eine Zeit also, die Stefan Zweig 1944 rückblickend unter „liberalistischen Idealismus“ verbuchte, sollte mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihr abruptes Ende finden.
Den erstarkenden Neonationalismus der gegenwärtigen Epoche, nicht nur in der westlichen Welt, sondern auch in Ländern wie China, Russland und der Türkei sowie in Lateinamerika führte er zum einen auf weltweit rückläufige Wachstumsraten und Wohlstandszuwächse zurück; zum anderen haben die Bevölkerungsanteile mit stagnierendem oder gar sinkendem Einkommen in den USA und in Europa in der zurückliegenden Dekade zugenommen.
Dabei betonte der Müller, dass Trump, Brexit wie insgesamt das Phänomen eines erstarkenden Populismus, der nicht selten auch die Insignien eines puren Autoritarismus aufweist, mit ausschließlich ökonomischen Faktoren natürlich nicht zureichend erfasst werden können.
Dass gerade die Globalisierung als populistisches Thema bei den falschen Patrioten ganz oben auf der Agenda stehe, hänge maßgeblich mit ihrer Komplexität zusammen. Wie kaum ein anderes Politikfeld bietet es die Möglichkeit für ein attraktives Gegenangebot: Komplexitätsreduktion und einfache Lösungen. Gefühle von Überforderung sowie insgesamt ein sich ausbreitendes „diffuses Unwohlsein“ bei vielen Menschen werden aufgegriffen und in vermeintlich alternative Politikangebote überführt, die sich in aller Regel aber vorzugsweise durch Simplifizierung, Konstruktion von Feindbildern sowie Negativismus und Dramatisierung auszeichnen.
Erschwerend komme hinzu, dass die Medien sich hier immer stärker als „Komplizen“ der Populisten gerieren. In den durch Social Media beschleunigten Nachrichtenzyklen haben sich im (ökonomischen) Kampf um Aufmerksamkeit neue Formen des Wettbewerbs herausgebildet, wo Tempo, Lautstärke und Negativismus zu zentralen Währungen geworden sind. Immer stärker – wenn auch mit Zeitverzögerung – folgen traditionelle journalistische Medien den Social-Media-Trends. Das Mitlaufen im Strom habe sich als gewinnmaximale Strategie herausgestellt.
Die beobachtbare politische Radikalisierung wird also durch einen Wettbewerb, in dem die Lärmspiralen immer größer werden und eine „Strategie des Tabubruchs“ als probates Mittel an der Tagesordnung ist, entscheidend gefördert.
Müller brach in der weiteren Diskussion mehrfach eine Lanze für die öffentlich-rechtlichen Medien, den nicht-kommerziellen Teil der Medien, der nach wie vor für Seriosität stehe.
Das Grundvertrauen in den Staat hat gelitten.
Karl-Heinz Paqué nahm in seinen Ausführungen zunächst Bezug auf die genannten geschichtlichen Aspekte bzw. Analogien. Zwar gebe es „beängstigende Parallelen“, allerdings seien damals (1914) die Entwicklungsprozesse schlagartig abgebrochen worden; heute hingegen könne man von einem „schleichenden Prozess“ sprechen. Der weltweit zu beobachtende langsame Abschied von einem liberalen Grundkonsens biete – wenn er von den Verfechtern der offenen Gesellschaft als Weckruf verstanden werde – aber vielleicht auch Chancen.
Da häufig Parallelen zur Weimarer Republik gezogen würden, sei es darüber hinaus „absolut wichtig, sich klarzumachen, dass wir noch lange nicht in einer Situation sind wie in den 20er Jahren.“ Vielmehr sollte jetzt die „Chance einer Re-Politisierung“ genutzt werden. Im Rückblick auf die Bundestagswahl meinte er: „Der schläfrige Wahlkampf hat verloren.“
Im Hinblick auf die relativ hohen Wahlergebnisse der AfD bei der jüngsten Bundestagswahl betonte er ebenfalls die begrenzte Erklärungsmacht ökonomischer Faktoren. Auch wenn die Zahl der Flüchtlinge seit längerem rückläufig sei, so habe seiner Ansicht nach die Entwicklung 2015/16 bei vielen Menschen zu einem tiefen Vertrauensverlust in den Staat geführt. Das Grundvertrauen in den Staat habe gelitten. Und dies sei bis heute eine „tiefe Wunde“.
Als ein positives Beispiel, wie man die vielfältigen grenzüberschreitenden Probleme lösen kann, hob Müller den französischen Präsidenten Macron hervor. Dieser biete wenigstens einmal eine Vision für die Zukunft. Demgegenüber zeichne die Bundeskanzlerin sich darin aus, dass sie eigentlich immer nur reagiere. Die Vorschläge von Macron sollten deshalb aufgegriffen und ernsthaft diskutiert werden.
Paqué setzte sich demgegenüber von einigen Elementen der Macronschen Vision kritisch ab, etwa wenn es um den Vorschlag einer „Haftungsgemeinschaft“ gehe, die in mehreren Ländern Europas, nicht nur in Deutschland, so Paqué, auch total unpopulär sei. Man müsse also sehr genau differenzieren. Bei einer Reihe von Politikfeldern, wo gemeinsames Handeln hingegen absolut sinnvoll sei (Terrorbekämpfung, Verteidigung, Flüchtlingspolitik etc.), stimme er mit den Vorstellungen des französischen Präsidenten durchaus überein.