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Brexit
Brexit: Neues Spiel mit alten Figuren

Das britische Unterhaus bereitet sich auf die nächste Brexit-Schlacht vor

Die Verlängerung läuft. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten hatten dem Vereinigten Königreich im April sieben weitere Monate Zeit zugestanden, um den Austritt aus der Europäischen Union zu organisieren. Drei Monate davon sind bereits abgelaufen. Sowohl die Chance auf ein zweites Referendum als auch das Risiko eines „No Deals“ sind gestiegen. 

Die britische Politik gleicht zunehmend einem Schachbrett. Die beteiligten Figuren haben zahlreiche Kämpfe um die Gestaltung des Brexits ausgetragen, ohne dass es dabei einen Sieger gegeben hätte. Die scheidende Premierministerin Theresa May ist mit ihrem Austrittsabkommen gescheitert, ohne dass es eine Mehrheit für irgendeine andere Option gab. Die Folge ist eine zunehmende Polarisierung zwischen denen, die den Brexit insgesamt ablehnen und entweder den Widerruf des Austrittsantrages oder ein zweites Referendum fordern, und denen, die selbst einen unkontrollierten Austritt ohne Vertrag in Kauf zu nehmen bereit sind, um den Brexit endlich umzusetzen. Wer in diesem Spiel die Farben schwarz und weiß repräsentiert, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Kaum noch vorhanden ist in jedem Fall die Farbe grau. Der aktuelle Wettbewerb um die Nachfolge von May als Parteivorsitzende und Premierministerin zeigt, dass Kompromisskandidaten keine Aussicht auf Erfolg haben. Der Brexit-Hardliner Boris Johnson gewann den ersten Wahlgang in der Unterhausfraktion mit einem drastischen Vorsprung auf seine Konkurrenten und gilt fast schon als sicherer Sieger des fraktionsinternen Auswahlprozesses. Auch innerhalb der sozialdemokratischen Labour-Fraktion nehmen die Fliehkräfte zu. Parteichef Jeremy Corbyn gerät aufgrund seiner unentschlossenen Haltung innerhalb der eigenen Partei zusehends unter Druck. 

Während die Figuren also immer extremere Positionen auf dem Schachbrett beziehen, ändert sich gleichzeitig wenig an deren Kräfteverhältnis, denn eine Neuwahl scheint derzeit ausgeschlossen. Aktuelle Umfragensehen vier Parteien zwischen 20 und 25 Prozent und damit in etwa gleichauf: Labour, Conservatives, die von Nigel Farage erst jüngst gegründete Brexit Party und die Liberal Democrats. Dieses Meinungsbild bestätigt die Lehren aus der Europawahl im Vereinigten Königreich: Von der politischen Brexit-Sackgasse profitieren vor allem die kompromisslosen Brexit-Befürworter (Brexit Party) und die klaren Brexit-Gegner (Liberal Democrats). 

Für die beiden etablierten Parteien, Conservatives und Labour, sind diese Zahlen ein schrillendes Alarmsignal. Sie werden alles daran setzen wollen, den versprochenen Brexit endlich „zu liefern“ und damit sowohl die Brexit Party als auch die Liberal Democrats in den Umfragen zu stutzen, bevor die Wähler das nächste Mal an die Urne gerufen werden. Sollte ihnen dies nicht gelingen, droht das britische Zweiparteiensystem komplett aus den Angeln gehoben zu werden. Für vier mittelgroße Parteien sind weder der Sitzungssaal im House of Commons noch die parlamentarischen Abläufe zur Bildung einer Regierung ausgelegt – ganz abgesehen von der wohl sehr geringen Koalitionswilligkeit der genannten Parteien.

Da die weiteren parlamentarischen Partien um die Gestaltung oder Abwendung des Brexits also mit denselben Figuren gespielt werden müssen wie die bisherigen, bleibt den Abgeordneten nur, sich neu aufzustellen oder – wie in einigen wenigen Fällen geschehen – die Farbe zu wechseln. Viel Aufmerksamkeit gilt daher in diesen Tagen der Rochade innerhalb der konservativen Partei. Deren Mitglieder werden Mitte Juli zwischen zwei von der Unterhausfraktion ausgewählten Kandidaten wählen dürfen. Der neue Parteivorsitzende und Premierminister, der höchstwahrscheinlich Boris Johnson heißen wird, darf sein Amt noch in der letzten Juliwoche antreten.

Auch die Liberaldemokraten mit neuer Führung

Gleichzeitig wählen auch die Mitglieder der Liberal Democrats einen neuen Parteiführer. Parteichef Vince Cable, der sich selbst als Übergangspräsident sah, hatte Anfang Mai seinen Rücktritt angekündigt. Das Rennen um seine Nachfolge wird zwischen dem ehemaligen Energieminister Edward Davey und der früheren Wirtschaftsstaatssekretärin Jo Swinson geführt. Davey wird innerhalb der Partei für sein charismatisches Auftreten und sein rhetorisches Talent sehr geschätzt. Die junge Schottin Swinson wäre die erste Frau an der Spitze der Liberalen Partei und wird vor allem von jüngeren Parteimitgliedern favorisiert. Wer von beiden das Rennen macht, dürfte ebenfalls Ende Juli feststehen.

Die Liberaldemokraten dürfen sich außerdem über Verstärkung freuen. Der ehemalige Labour-Abgeordnete Chuka Umunna erklärte gestern, dass er sich den Liberalen anschließen wolle. Thomas Brake, europapolitischer Sprecher der LibDems, begrüßte diesen Schritt euphorisch: „Die Kampagne für ein zweites Referendum, um den Brexit zu stoppen, ist gerade unermesslich gestärkt worden“. Der Parteiwechsel Umunnas, der in Schachmetaphern gesprochen eher ein Läufer als ein Bauer ist, bedeutet für die LibDems einen doppelten Sieg. Denn Umunna hatte erst vor wenigen Monaten gemeinsam mit zehn anderen Abgeordneten die eigene Partei ChangeUK gegründet und damit versucht, den LibDems Konkurrenz zu machen. ChangeUK ist vergangene Woche allerdings nach einer desaströsen Europawahlkampagne zerbrochen. Den LibDems ist es damit gelungen, einen Angriff aus dem eigenen Lager abzuwehren und sich als einzige Anti-Brexit-Partei im politischen Zentrum zu behaupten.

Und nun? Schachmatt?

Was bedeuten diese Entwicklungen für den weiteren Verlauf des Brexit-Prozesses? Der wahrscheinliche nächste Premierminister Johnson möchte mit der Europäischen Union nachverhandeln. Dies schließen aber sowohl die Europäische Kommission als auch zahlreiche Regierungschefs der Mitgliedsstaaten kategorisch aus. Kommissionspräsident Juncker erklärte dazu, das Austrittsabkommen sei „kein Vertrag zwischen zwei Regierungschefs, sondern zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich“. Ob Johnson allerdings überhaupt ernsthaft an Nachverhandlungen interessiert ist, bleibt offen. Möglicherweise möchte er diese nur als Feigenblatt nutzen, um schlussendlich einen Austritt ohne Vertrag durchzusetzen.

In diesem Zusammenhang sollte der Unterschied zwischen „no deal“und „hard brexit“ betont werden. Beide Begriffe werden des Öfteren synonym verwendet, meinen aber sehr unterschiedliche Dinge. Bei einem harten Brexit würde das Vereinigte Königreich Zollunion und Binnenmarkt verlassen, es gäbe aber trotzdem einen sanften Übergang durch eine mehrjährige Übergangsphase. Außerdem wäre der Fortbestand der bisherigen Rechte europäischer Bürger im Vereinigten Königreich garantiert. „No deal“ bezeichnet hingegen einen Austritt gänzlich ohne Vereinbarung und Übergangsfrist. Für diesen Fall rechnen Experten mit verheerenden wirtschaftlichen Verwerfungen und großer Unsicherheit für Bürger und Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals. 

Angesichts der zunehmenden Polarisierung auf dem Schachbrett britischer Politik ist sowohl die Wahrscheinlichkeit eines unkontrollierten Austritts als auch eines zweiten Referendums deutlich gestiegen. Regierung und Parlament werden bis zum 31. Oktober 2019 heftig darum ringen, welche dieser Optionen Realität wird. Wer dabei wen schachmatt setzt oder ob es bei einem ewigen Remis bleibt, lässt sich heute noch nicht ablesen. 

 

Sebastian Vagt betreut als European Affairs Manager die Aktivitäten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Vereinigten Königreich.