Niederlande
D66-Parteiführerin Sigrid Kaag: Neuer Stern am liberalen Himmel der Niederlande?
Nach Schließung der Wahllokale bei den niederländischen Parlamentswahlen am 17. März deuteten die ersten Exit Polls auf eine Überraschung hin. Die sozialliberale Partei D66 schaffte es nach einem stetigen Anstieg in den Umfragen, zweitstärkste Partei im Land zu werden. Angeführt von der neuen Parteivorsitzenden Sigrid Kaag gewannen die Sozialliberalen 24 Sitze im niederländischen Parlament (bei 15 % der Wählerstimmen gegenüber 12,2 % im Jahr 2017) und erreichten damit das bisherige Rekordergebnis von 1994 unter Parteigründer Hans van Mierlo. Darüber hinaus machte das Wahlergebnis die D66 zum ersten Mal in ihrer Geschichte zur zweitgrößten Partei im niederländischen Parlament.
Viele Beobachter sahen bei dem Wahlsieg eine Schlüsselrolle für Sigrid Kaag. Die Partei profitierte von einem klaren Manifest und einem guten Timing ihrer Botschaften, vor allem aber von einem sehr starken Auftritt Kaags im Wahlkampf. Gegen alle Widerstände präsentierte sie sich erfolgreich als Herausforderin von Premierminister Mark Rutte und positionierte sich als starke Kandidatin für die Führung.
Neuling in der niederländischen Politik
Als Kaag am 4. September 2020 zur neuen Parteivorsitzenden der D66 gewählt wurde, war sie in der Öffentlichkeit noch relativ unbekannt. Als Ministerin für Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit im dritten Rutte-Kabinett hatte sie einen wichtigen, aber kaum sichtbaren Posten in der niederländischen Regierung. Trotzdem genoss Kaag innerhalb ihrer Partei großen Rückhalt und gewann die Wahl zum Parteivorsitz mit 95,7 % der Stimmen souverän.
Sowohl bei der Wahl des Parteivorsitzes als auch bei den Parlamentswahlen galt Kaag als atypische Kandidatin. Der Beginn ihrer Amtszeit als Handelsministerin im Jahr 2017 bedeutete ihr politisches Debüt in den Niederlanden, da sie zuvor kein öffentliches Amt bekleidet hatte. Obwohl es nicht ungewöhnlich ist, dass Minister ohne politischen Hintergrund ernannt werden, kommt es selten vor, dass sie anschließend Parteivorsitzende werden. Dies war umso ungewöhnlicher, als Kaag sich 2017 erneut als Parteimitglied registrieren lassen musste (zuvor war sie zwischen 2009 und 2013 Mitglied). Doch in etwas mehr als drei Jahren baute Kaag langsam ihr Profil innerhalb der Partei auf und begann, in nationalen Diskussionen aufzutreten.
Eine ungewöhnliche (Partei-)Chefin für ungewöhnliche Zeiten
Auch wenn das Umfeld für Sie neu war, der Anpassungsprozess war es sicher nicht. Die Umstellung auf neue Umstände zieht sich wie ein roter Faden durch Kaags Karriere. Aufgewachsen ist sie in den Niederlanden, doch nach dem Abitur und einem Jahr Studium in Utrecht ging sie als Zwanzigjährige nach Kairo, um Arabisch und Nahoststudien zu studieren. Dies war der Beginn einer jahrzehntelangen internationalen Karriere, in der sie im Ausland arbeitete. Nach weiteren Studien in Oxford und Exeter arbeitete sie kurz für Shell und das niederländische Außenministerium, bevor sie zu den Vereinten Nationen (UN) ging.
Bei den UN hatte Kaag zahlreiche Posten im Nahen Osten, Ostafrika, New York und Genf inne, bevor sie von 2013 bis 2014 als UN-Untergeneralsekretärin die Mission zur Beseitigung von Chemiewaffen in Syrien leitete. Nach dem erfolgreichen Abschluss dieser Mission wurde sie bis zu ihrer Ernennung zur Ministerin für Handel und Entwicklungszusammenarbeit die UN-Untergeneralsekretärin im Libanon.
Als erfahrene Diplomatin (Kaag spricht sechs Sprachen, darunter fließend Arabisch) war sie für den Ministerposten gut geeignet. Obwohl ihr Hintergrund eine stärkere Affinität zum Bereich der Entwicklungszusammenarbeit nahelegt, nutzte sie das Handelsressort, um ihre liberalen und internationalen Qualitäten zu präsentieren ("Hinter den Deichen hart aufzutreten, bringt einen nicht weiter"). Kaag war eine starke Befürworterin des CETA-Handelsabkommens zwischen der EU und Kanada und schaffte es, trotz starker Opposition, eine knappe Mehrheit im Parlament für dessen Ratifizierung zu sichern.
Trotz ihrer guten Erfolgsbilanz als Handelsministerin hätten nur wenige Menschen den Wahlerfolg von D66 vorhergesagt. Ohne prominente Sichtbarkeit bei der Bekämpfung des Coronavirus hatten es die Partei und ihre Kandidatin anfangs schwer, Zugkraft zu finden. Doch nach einem langsamen Start gewann Kaag nach starken Leistungen in einer Reihe von TV-Debatten an Fahrt. Die Umfragewerte stiegen in den Tagen vor der Wahl kontinuierlich auf etwa 10 % an und die Unterstützung schoss schließlich auf 15 % im Endergebnis.
Neue politische Kultur
Eine Erklärung für den Zuspruch ist gerade der unkonventionelle Hintergrund von Kaag. Atypische Zeiten verlangen nach atypischen Führungspersönlichkeiten und Sigrid Kaag schien die D66-Botschaft geradezu ideal zu verkörpern, dass es Zeit für eine neue Führung sei. Gepaart mit einer progressiven Agenda und gut getimten Plänen, das Land aus der Coronavirus-Pandemie zu führen, war ihre Kandidatur ein erfrischendes Element in einem ansonsten unauffälligen Wahlkampf.
Als relativ neuer Politiker ist Kaag mit dem Versprechen einer neuen Führung in den Wahlkampf gezogen. Nach den Wahlen hat dieses Versprechen noch mehr an Bedeutung gewonnen, da der Prozess der Bildung einer neuen Koalitionsregierung innerhalb weniger Tage im Chaos versank. Premierminister Mark Rutte überlebte nur knapp ein Misstrauensvotum, nachdem ihm vorgeworfen wurde, er habe gelogen, um einen lästigen Abgeordneten ins Abseits zu stellen. Nach dem Rücktritt der Regierung im Januar wegen eines Skandals um Kinderbetreuungsleistungen führte dies zu einer neuen politischen Krise und schuf einen Riss zwischen mehreren möglichen Koalitionspartnern.
Die politische Krise hat eine breitere Debatte über die Notwendigkeit einer neuen politischen Kultur ausgelöst. Als unvermeidlicher Koalitionspartner in jeder möglichen Zusammensetzung hat Kaag jetzt das Sagen in diesem Prozess der demokratischen Erneuerung. Angesichts der vielen Unwägbarkeiten ist es schwierig vorauszusehen, wie der Weg nach vorne in einer zersplitterten und fragmentierten politischen Landschaft aussehen wird. Aber mit jahrzehntelanger Verhandlungserfahrung in einigen der schwierigsten Gebiete der Welt wäre es schwierig, sich jemanden vorzustellen, der besser für die anstehende Aufgabe geeignet ist.