Digitalisierung
Der DSA will Plattformen krisenfest machen – was taugt der „Crisis Response Mechanism“?
Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch in Bezug auf Plattformen und Medienangebote eine umfassende Zeitenwende eingeläutet. Gegen die Verbreitung von russischer Kriegspropaganda in der EU wurde das für diesen Zweck unkonventionelle Mittel der Wirtschaftssanktionen in Stellung gebracht. Mehrere russische Sender, die unter staatlichem Einfluss stehen, wurden sanktioniert. Im Rahmen der Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit eines solchen „Desinformationsembargos“ rückt nunmehr auch der Digital Services Act (DSA) in den Fokus.
Eigentlich waren die Verhandlungen im Trilog bereits so gut wie abgeschlossen als unter dem Eindruck der russischen Desinformationskampagne ein Instrument im DSA in den Vordergrund rückte, das bis dato eher ein Schattendasein gefristet hatte. Die sogenannten „Krisenprotokolle“ in Artikel 37. Dieser – auf freiwilligen Maßnahmen der Dienstanbieter basierende – Mechanismus wurde für die weltweite Corona-Pandemie erdacht, um besser gegen Desinformation angehen und dieser Informationen aus offiziellen oder vertrauenswürdigen Quellen entgegensetzen zu können. Da dieses Konzept aber für ein wirksames und schnelles Vorgehen gegen Kriegspropaganda nicht hinreichend zugeschnitten erschien, wurde mit dem „Crisis Response Mechanism“ (CRM) buchstäblich auf der Zielgeraden der Verhandlungen ein neuer Artikel 27a DSA eingefügt.
Der CRM soll schnelles und wirksames Handeln ermöglichen
Der „Crisis Response Mechanism“ sieht ein Sonderverfahren für Dringlichkeitsmaßnahmen in Krisensituationen vor, dessen zentralen Akteure das europäische Gremium für digitale Dienste (Anm.: „Board“ in der engl. Sprachfassung), die Europäische Kommission und bestimmte Plattformen sind. Der im Normalbetrieb maßgebliche Pflichtenkatalog von „Very Large Online Platforms“ (VLOPs) und „Very Large Search Engines“ (VLSEs) kann mit dem Mechanismus hiermit situationsspezifisch angepasst werden.
Nach Artikel 27a Absatz 2 DSA gilt eine Krise als eingetreten, wenn außergewöhnliche Umstände zu einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit in der Union oder in wesentlichen Teilen der Union führen. Erwägungsgrund 59a DSA illustriert das dahingehend, dass gegenwärtige oder entstehende bewaffnete Konflikte oder Terroranschläge, Naturkatastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürme, aber auch Pandemien und anderen ernste grenzüberschreitenden Bedrohungen für die öffentliche Gesundheit gegenständlich sein können.
Im Krisenfall kann die Europäische Kommission auf Empfehlung des Europäischen Gremiums für digitale Dienste eine Entscheidung erlassen, wonach VLOPs und VLSEs zu spezifischen Maßnahmen verpflichtet werden. Diese spezifischen Maßnahmen bezeichnen indes nur einen allgemeinen Rahmen, namentlich die Durchführung eines besonderen Risikoassessments (Anbieter sollen bewerten, inwieweit ihre Dienste mit Blick auf die Krise Eskalationspotential haben), Maßnahmen zur Risikoadressierung und eine situationsadäquate Berichtspflicht an die Kommission.
In Bezug auf die konkreten Maßnahmen haben die adressierten Anbieter ein weites Ermessen. Sie müssen nur sicherstellen, dass die Maßnahmen verhältnismäßig sind und der Schwere der Krise hinreichend Rechnung tragen. In Betracht kommen unter anderem die Implementierung von Moderationsverfahren, das Aufstocken von Ressourcen, die zügige Entfernung oder Sperrung des Zugangs zu illegalen Inhalten, das Anpassen algorithmischer Systeme, Verfahren zur Kennzeichnung manipulierter audiovisueller Inhalte sowie besondere organisatorische Maßnahmen wie die Benennung einer Krisenkontaktstelle.
Braucht es für schnelles und wirksames Handeln den CRM?
Es stellt sich die Frage, an welcher Stelle der neu eingeführte Mechanismus über die bereits unabhängig davon nach Artikel 37 DSA geltenden Krisenprotokolle und allgemeinen Maßnahmen zur Risikominderung nach Artikel 27 DSA hinaus Substanzielles für die Krisenbewältigung leisten kann.
Betrachtet man das in Artikel 27a in den Absätzen 1-11 DSA ausbuchstabierte Verfahren näher, wird vor allem eines deutlich: Es ist hochkomplex. Da es in der Sache unter anderem um das Blockieren bestimmter Inhalte durch die Plattformen gehen kann, erscheint Komplexität vordergründig auch sachgerecht, um ein grundrechtssicherndes System von „Checks and Balances“ zu etablieren. Tatsächlich wird aber weder klar, wer nun die in Artikel 27a DSA gleich mehrfach adressierte Verhältnismäßigkeit vornehmlich zu gewährleisten hat (Plattformen und/oder Kommission), noch dürfte das Verfahren in einer situationsadäquaten Geschwindigkeit durchführbar sein.
Insoweit ist der vorgeblich neue CRM also weit weniger mutig ausgefallen als das außenpolitisch begründete Desinformationsembargo. Weniger mutig auch deshalb, weil die Kommission sich nicht getraut hat, ein Mandat zur Verordnung konkreter Maßnahmen zu verankern. Ob sich damit der politische Wille, der Verbreitung von Kriegspropaganda über die Plattformregulierung effizient zu begegnen rechtlich abbilden lässt, ist zweifelhaft.
Ein weitgehend intransparentes und wirkungsloses Verfahren
Die Aufnahme des CRM im DSA dürfte insoweit mehr Schaden als Nutzen ausgelöst haben. Das Verfahren wurde zu einem Zeitpunkt in den DSA integriert, der eine öffentliche Debatte nicht mehr zuließ. Insbesondere Alternativvorschläge oder Änderungsanträge zum Krisenmechanismus, die seitens der Kommission, des Europäischen Parlaments oder der Mitgliedstaaten (im Rat) eingebracht wurden, konnten nicht öffentlich nachvollzogen werden. Diese Kritik an der Intransparenz des Verfahrens ist berechtigt.
Die Kommission überlässt die Auswahl der Maßnahmen zur Krisenadressierung den Diensteanbietern und kann selbst nur in geringem Umfang nachsteuern. Auch die Frage, wer genau die Verantwortung dafür trägt, dass die Maßnahmen wirksam und verhältnismäßig sind, verschwimmt in einem überkomplexen Prozess. Anstatt Verantwortung situationsadäquat zuzuweisen, herrscht organisierte Verantwortungskonfusion. Wegen der vom CRM unabhängigen Möglichkeiten der Plattformen auf freiwilliger Basis krisensituationsadäquat zu reagieren, dürfte der neue Mechanismus wenig Praxisrelevanz haben und eher als aktuelles Beispiel einer Schaufensternorm dienlich sein.
Prof. Dr. Tobias Keber hält eine Professur für Medienrecht und Medienpolitik in der digitalen Gesellschaft an der Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart. Teresa Widlok ist Referentin für Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit am Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 6. Juli 2022 auf tagesspiegel.de und ist auch hier zu finden.