Libanon
Der Libanon am Scheideweg
Wenn dieses Abkommen vollständig umgesetzt wird, kann es den Libanon auf einen Weg in eine Zukunft führen, die seiner bedeutenden Vergangenheit gerecht wird.
Zusammenfassung
Im Fokus der folgenden Kurzanalyse stehen die gegenwärtige Dynamik im Libanon, Zukunftsszenarien und vor allem Handlungsempfehlungen für das deutsche Engagement im Libanon.
Das von den USA und Frankreich vermittelte Waffenstillstandsabkommen bietet die Chance für eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung des Libanon. Der Erfolg hängt indes von schnellem und konsequentem Handeln ab, um die Dynamik eines fragilen Staates zu durchbrechen, der über großes Talent und Potential verfügt.
Drei Szenarien skizzieren mögliche Entwicklungen:
- Best-Case-Szenario: Politische Stabilität und wirtschaftlicher Aufschwung durch internationale Unterstützung und weitsichtige, innerlibanesische Reformen.
- Worst-Case-Szenario: Eskalation innerer Spannungen und interkommunaler Gewalt.
- Mittleres Szenario: Der Libanon bleibt ein fragiler Staat, unfähig, wesentliche politische Transformationen umzusetzen.
Handlungsempfehlungen: Die Analyse begründet im Schlusskapitel die Bedeutung internationaler Unterstützung in fünf strategischen Handlungsfeldern und spricht Empfehlungen für die Schwerpunktsetzung deutschen Engagements in einzelnen Interventionsbereichen aus:
- Stärkung der libanesischen Armee: Sie ist der Garant für nationale Sicherheit und Stabilität.
- Wiederaufbau und humanitäre Hilfe: Ein strategisch geführter Wiederaufbau unter staatlicher Kontrolle ist entscheidend, um das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen.
- Wirtschaftliche Unterstützung: Ein „Marshall-Plan“ für den Libanon soll Perspektiven für die Bevölkerung schaffen und den politischen Prozess flankieren.
- Förderung eines nationalen Dialogs: Politische Reformen sind unabdingbar für die Konsolidierung eines demokratischen und handlungsfähigen Staates.
- Regionale Konfliktlösung: Stabilität im Libanon kann es langfristig nur in einem befriedeten Nahen Osten geben
Faktor Zeit: Die nächsten Monate sind entscheidend, um das Zeitfenster für positive Veränderungen zu nutzen und den Libanon dabei zu unterstützen, sich aus der Spirale von Konflikt und Instabilität zu befreien.
Gute zwei Wochen sind seit dem Inkrafttreten des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hisbollah vergangen. Nach fast 14 Monaten Krieg, der auf libanesischer Seite mehr als 4.000 Tote und knapp 17.000 Verletzte forderte, weite Teile des Landes verwüstete, ca. 20% der Bevölkerung zu Binnenflüchtlingen machte und der Hisbollah als „Staat im Staate“ eine schwere Niederlage zufügte, steht der Libanon ein weiteres Mal in seiner turbulenten Geschichte am Scheideweg. Und zeitgleich mit ihm nahezu der gesamte Nahe Osten.
US-Präsident Joe Biden und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatten am Vortag der Waffenruhe in einem gemeinsamen Statement[1] das unter amerikanischer und französischer Vermittlung zustande gekommene Waffenstillstands-Abkommen zwischen Israel und dem Libanon verkündet – und kurz eine Vision skizziert, deren Zukunftsoptimismus angesichts des Zustands des Libanon und der multiplen, ungelösten Krisen stutzig macht.
Von einem „Neuanfang für den Libanon“ sprach Präsident Biden und verwies auf die reiche Geschichte und Kultur des Landes: „Wenn dieses Abkommen vollständig umgesetzt wird, kann es den Libanon auf einen Weg in eine Zukunft führen, die seiner bedeutenden Vergangenheit gerecht wird.“[2]
Die vereinbarte, vorerst auf 60 Tage befristete Waffenruhe, werde in drei Stufen umgesetzt:
Zunächst soll sich die Hisbollah hinter den Fluss Litani etwa 30 km nördlich der Grenze im Südlibanon zurückziehen. In der zweiten Stufe müssen die israelische Truppen den Südlibanon verlassen, während die libanesische Armee rund 10.000 Soldaten südlich des Litani-Flusses stationiert, bevor schließlich Verhandlungen über eine Abgrenzung der entsprechenden Gebiete geführt werden. Auch nimmt die Waffenstillstandsvereinbarung Bezug auf die VN-Resolution 1701[3] aus dem Jahr 2006. Eine Staatengruppe unter Führung der USA soll die Waffenruhe überwachen.
Die Regierung des Libanon - derzeit nur geschäftsführend im Amt - soll alle Waffenverkäufe sowie deren Produktion überwachen, um eine Wiederaufrüstung der Hisbollah oder anderer bewaffnete Gruppen zu verhindern.
Die Waffenstillstandsvereinbarung beendet - hoffentlich nachhaltig – den zerstörerischen Krieg zwischen Israel und der Hisbollah und ermöglicht im Prinzip die Rückkehr der auf beiden Seiten der Grenze vertriebenen und geflüchteten Menschen. In Nordisrael waren rund 60.000 Zivilisten vor dem Beschuss der Hisbollah geflohen oder evakuiert worden und warteten bzw. warten zum Teil seit mehr als einem Jahr auf die Rückkehr in ihre Häuser.
Vor allem im Südlibanon sind die Zerstörungen in den Dörfern und Städten so massiv, dass es abzuwarten gilt, wie eine umfassende und zeitnahe Rückkehr der libanesischen Binnenflüchtlinge erfolgen kann.
Der Waffenstillstand schafft, das ist klar, eine erste notwendige Voraussetzung, um die Weichen für eine bessere Zukunft stellen zu können.
Dass Geschichte und Prozesse sich nicht linear, sondern immer wieder auch abrupt, gar disruptiv entwickeln, ist eine Binse. Der Nahe Osten steht inmitten einer Neuordnung seiner Machtbalance und geopolitischen Ordnung. Während im Libanon mit dem Waffenstillstandsabkommen ein erfolgreicher Schritt auf dem langen Weg zur Stabilisierung und Befriedung der Region gelungen ist, bleibt die so dringliche Konfliktlösung im Gaza-Krieg, und damit ein Ende des unerträglichen Leids, weiterhin nicht in Sicht. Unterdessen besiegelt der Fall des Assad-Regimes in Syrien den Niedergang des iranischen und russischen Einflusses in der Levante.
Ein Blick auf mögliche Szenarien für den Libanon:
- Best-Case-Szenario: Der libanesische Staat weitet seine Kontrolle über das ganze Land aus. Die Hisbollah löst ihre Miliz auf. Nach der Wahl eines neuen Präsidenten ruft dieser eine Nationale Konferenz ins Leben, um Reformen des politischen Systems anzugehen. Stabilität und internationale Unterstützung ermöglichen einen wirtschaftlichen Aufschwung, der den politischen Transformationsprozess flankiert. Kurzum: Die Realisierung der von US-Präsident Biden skizzierten Vision eines stabilen und wirtschaftlich prosperierenden Libanon.
Die Implementierung der Waffenstillstandsbedingungen ist nur ein erster, notwendiger Schritt. Um auf das Best-Case-Szenario hinzuarbeiten, muss das Waffenstillstands-abkommen, und zwar möglichst unverzüglich, durch einen wirksamen politischen Prozess und eine breite wirtschaftliche Entwicklung im Libanon ergänzt werden.
Gegenwärtig steht ein historisches Fenster der Gelegenheit offen, dass sich aber in der äußerst dynamischen Lage schnell wieder schließen könnte. Der Libanon und seine Partner befinden sich daher in einem Rennen gegen die Zeit, in dem Schnelligkeit und Effektivität der internationalen Unterstützung für den Libanon entscheidende Faktoren für die Erfolgsaussichten einer Konflikt-Transformation sind.
- Worst-Case-Szenario: Die Eskalation innerlibanesischer Spannungen / Ausbruch interkommunaler Gewalt im Zuge der Neuordnung der regionalen und innerlibanesischen Machtbalance.
Dieses Szenario wird vor allem von Libanesen selbst – was beunruhigend ist! - als durchaus denkbar eingestuft wird und kommt in der medialen Berichterstattung in Deutschland zu kurz.
Ein Blick in die Geschichtsbücher mahnt hier zu größter Vorsicht und politischer Weisheit: Die Neuordnung der Machtbalance verlief im Libanon historisch selten friedlich.
- Mittleres Szenario: Libanon als fragiler Staat
Zwischen den beiden Extremen liegt – quasi als Mittelweg - ein drittes Szenario, in dem es zwar gelingt, den Weg in den Abgrund abzuwenden, der Libanon aber gleichzeitig an einer politischen Transformation scheitert und weiterhin als fragiler Staat nur ein Mindestmaß seiner staatlichen Rolle ausübt.
Es dürfte im Libanon niemanden gewundert haben, als die Hisbollah nach dem 7. Oktober 2023 quasi im Alleingang in den Konflikt zwischen Hamas und Israel eingriff. Nicht die libanesische Regierung, das Parlament oder gar die Bevölkerung, sondern die Hisbollah und ihre Partner trafen die schicksalhafte Entscheidung über den Eintritt in den Konflikt mit Israel.
Der Aktivist und Politikanalyst Ronnie Chatah, Sohn des 2013 bei einem Attentat in Beirut ermordeten, ehemaligen Finanzministers und prominenten Hisbollah-Kritikers Mohamad Chatah, beschrieb noch während des Kriegs die Gemütslage vieler Libanesen treffend: „We are terrorized by what Israel is doing. And we are paralyzed by what Hezbollah has done.”
Dass die Hisbollah aus dem jüngsten Konflikt mit Israel geschlagen hervorgeht, hat u.U. zur Folge, dass die Hisbollah als militärischer Akteur ihre Abschreckung gegenüber Israel verloren hat. Mit dem Fall des Assad-Regimes im benachbarten Syrien folgte für die Hisbollah eine weitere strategische Niederlage.
Der von der New York Times in ihrer Ausgabe vom 8.12.2024[4] zitierte Meysam Karim Jaffari, ein konservativer Journalist und Analyst mit Verbindung zu den Revolutionsgarden, bemühte für die Wendung im Libanon und Syrien gar den Fall der Berliner Mauer:
„The Berlin Wall of unity for the axis of resistance has collapsed. That’s it“[5], wird er in Bezug auf Irans Netzwerk regionaler Verbündeter, zu denen die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon, die syrische Regierung, die Huthis im Jemen sowie bewaffnete Gruppen in Syrien und im Irak gehörten, zitiert.
Die iranische Strategie sei gescheitert, stimmt auch Ali Vaez, Iran-Direktor der renomierten „International Crisis Group“ im besagten Beitrag der NYT zu: “The fall of Assad puts an exclamation point on the fact that decades of Iranian strategy and investment in the Levant have come undone in a matter of weeks”.[6]
Die Niederlage der Hisbollah geht indes über die militärische Dimension weit hinaus. Ihr Narrativ und ihre Glaubwürdigkeit haben im Libanon, selbst in den Kreisen ihrer Sympathisanten, irreparablen Schaden genommen.
Die Perzeption eigener Schwäche, sie führt – so die historische Erfahrung – oft nicht zu Kompromissbereitschaft, sondern zu Radikalisierung. Während ein Ende der Hisbollah als Miliz und Staat-im-Staate für eine nachhaltige Entwicklung des Libanon unerlässlich ist, muss im Interesse einer Befriedung des Landes vermieden werden, dass sich bei den Schiiten des Libanon das Gefühl einer Niederlage oder gar Demütigung verfestigt, die den Nährboden für künftige unheilvolle Entwicklungen bilden könnte. Die Hisbollah, sie baute ihre Unterstützung auch auf der im kollektiven Bewusstsein vieler Schiiten vorhandenen Angst vor einer Rückkehr in vergangene Zeiten, in denen ihre Gemeinde am prekären Rand der Gesellschaft lebte.
Es ist wichtig, dieses Narrativ zu kennen, denn nur ein politischer Prozess, bei dem allen Libanesen, vor allem auch der schiitischen Bevölkerungsgruppe, eine Brücke in einen besseren Libanon gebaut wird, verspricht langfristig Erfolg.
Die Verantwortung hierfür liegt bei der gesamten politischen und gesellschaftlichen Elite des Landes. Während zumindest der Autor dieses Berichts keinen libanesischen „Nelson Mandela“ am Horizont sieht, könnten jedoch die im „Taef-Friedensabkommen“ sowie der libanesischen Verfassung seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 verankerten, aber nie vollständig umgesetzten Pläne für eine Reform des politischen Systems als Grundlage und Ausgangspunkt für einen nationalen Dialog dienen.
Auf der Agenda stünde dann z.B. die Reform des derzeitigen politischen Konfessionalismus in Verbindung mit der Schaffung eines Zwei-Kammer-Systems, dessen Senat die existenziellen Interessen aller religiösen und ethnischen Minderheiten garantieren soll. Wenn es damit gelänge, politische Handlungsfähigkeit und Minderheitenschutz zu vereinen, wäre dies womöglich der Schlüssel zum Erfolg.
Neben den folgenden grundsätzlichen Überlegungen zu den Bereichen, in den eine Unterstützung des Libanon besonders geboten erscheint, soll an dieser Stelle bereits vorab betont werden, wie wichtig schnelles, zeitnahes Handeln für die Erfolgsaussichten internationalen Engagements ist.
Je schneller und effektiver der libanesische Staat dabei gestärkt wird, Verantwortung zu übernehmen, desto eher kann verhindert werden, dass die Hisbollah und andere Akteure ihre Macht und Legitimität auf Kosten des Staates ausbauen.
„Rebuilding Lebanon... not continuously reconstructing and waiting for more war“, mahnt der Aktivist und Politikanalyst Ronnie Chatah, Sohn des 2013 bei einem Attentat in Beirut ermordeten, ehemaligen Finanzministers und prominenten Hisbollah-Kritikers Mohamad Chatah. Der Libanon kann sich keinen weiteren Kreislauf aus Krieg und Wiederaufbau leisten. Notwendig ist ein langfristiger Wiederaufbau, der über reine Reparaturen hinausgeht und unter der klaren Führung des Staates steht.
Während die USA, Frankreich und die Golf-Monarchien über erhebliche Soft-Power und etablierte Netzwerke im Libanon verfügen, sollte Deutschland seine Rolle im Rahmen einer abgestimmten Arbeits- und Lastenteilung mit diesen Partnern gezielt ausbauen.
Die fünf strategisch wichtigsten Interventionsbereiche für ein Engagement im Libanon sind:
1. Unterstützung und Stärkung der libanesischen Armee
Die libanesische Armee benötigt dringend finanzielle Mittel, Ausrüstung und Ausbildung, um ihre Autorität im gesamten Land zu festigen und ihrer Rolle als Garant für Sicherheit und Stabilität gerecht zu werden. Insbesondere die finanzielle Unterstützung ist entscheidend, da die Reallöhne der Soldaten infolge des Währungsverfalls und der maroden Staatsfinanzen dramatisch gesunken sind.
Trotz der enormen Herausforderungen genießt die Armee im Libanon traditionell großen gesellschaftlichen Rückhalt und gilt als eine der wenigen nationalen und überkonfessionellen Institutionen. Ihre Befähigung und institutionelle Stärkung sind von strategischer Bedeutung – möglicherweise sogar eine Grundvoraussetzung, um in einem künftigen nationalen Dialog die Waffen und militärischen Kapazitäten der Hisbollah-Miliz in die Streitkräfte zu integrieren und das staatliche Gewaltmonopol nach Jahrzehnten wiederherzustellen. Denn trotz ihrer Schwächung dürfte die Hisbollah auch heute noch militärisch der regulären libanesischen Armee überlegen sein.
In den vergangenen Jahren wurde die Unterstützung der libanesischen Armee vor allem von den USA, zuletzt auch von Katar, getragen. Angesichts des enormen Bedarfs und der möglichen Reduzierung amerikanischer Militärhilfe in der Präsidentschaft von Donald Trump ist eine stärkere Beteiligung Europas und arabischer Staaten perspektivisch geboten.
Frankreich scheint sich dieser Dringlichkeit bewusst zu sein. Präsident Macron betonte in einem Interview mit Libanons führender Tageszeitung „An-Nahar“: „Die internationale Gemeinschaft muss ihre Bemühungen fortsetzen, die libanesischen Streitkräfte zu unterstützen, die ein Eckpfeiler dieses Abkommens und der Wiederherstellung der libanesischen Souveränität sind, im Einklang mit der Konferenz, die wir am 24. Oktober dieses Jahres in Paris abgehalten haben.“[7]
Zudem wird deutlich, dass Europa angesichts der finanziellen Belastungen durch den Ukraine-Krieg strategische Partner sucht: „In dieser entscheidenden Zeit für die Zukunft des Libanon ist es wichtig, mit dem (saudischen) Kronprinzen (Mohammed bin Salman) über die Unterstützung der libanesischen Streitkräfte und den Wiederaufbau des Landes zu sprechen, ebenso wie über die politischen Perspektiven, die durch die Sitzung des libanesischen Parlaments am 9. Januar eröffnet wurden, in der Hoffnung, dass der Präsident gewählt wird, den das Land so dringend braucht“, fügte Macron hinzu.
2. Wiederaufbau-Programme und humanitäre Soforthilfe für den Libanon
Angesichts des nahenden Winters muss die humanitäre Hilfe für die notleidende Bevölkerung dringend ausgebaut werden. Gleichzeitig ist ein schneller und effektiver Wiederaufbau der Infrastruktur und Bausubstanz, unter der Führung des libanesischen Staates, nicht nur eine humanitäre Pflicht, sondern auch strategisch entscheidend, um die Herzen und Köpfe der Bevölkerung im Wettbewerb mit der Hisbollah und anderen Akteuren zu gewinnen.
Ein Blick in die jüngere Geschichte zeigt, wie wichtig schnelles Handeln ist: Nach dem Krieg zwischen der Hisbollah und Israel im Jahr 2006 konnte die Hisbollah durch massive finanzielle Unterstützung, vor allem aus dem Iran, ihre Legitimität und Popularität in ihren Hochburgen rasch wieder festigen – vor allem durch schnelle und unbürokratische Wiederaufbaumaßnahmen.
Rasche, öffentlichkeitswirksame und vor allem sichtbare Erfolge sind essenziell, um Vertrauen in den Wiederaufbau und die Zukunft des Landes zu schaffen. Der ruinöse, durch Korruption und Misswirtschaft zugrunde gerichtete Elektrizitätssektor ist hierfür ein besonders geeignetes Handlungsfeld. Er könnte Deutschland als Vorzeigeprojekt dienen, bei dem die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Führungsrolle übernehmen könnte.[8]
Nach früheren Krisen, wie der Hafenexplosion in Beirut im Jahr 2020, konzentrierten sich internationale Geber aus verständlichem Frust über die weitverbreitete Korruption staatlicher Strukturen im Libanon auf die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dieser Ansatz sollte jedoch heute aus übergeordneten Erwägungen zumindest kritisch hinterfragt werden. Es ist strategisch geboten, den libanesischen Staat zu stärken und zu konsolidieren, flankiert freilich von strikten Kontrollmechanismen, um Korruption und Missbrauch einzudämmen. Klar ist, dass Rückschläge in diesem Prozess zu erwarten sind.
Mit der voraussichtlichen Wahl eines neuen Präsidenten und der Bildung einer handlungsfähigen Regierung im Januar 2025 wird es von zentraler Bedeutung sein, auch die politische Entwicklungszusammenarbeit in den Bereichen Korruptionsbekämpfung und „Gute Regierungsführung“ zu intensivieren. Im Bereich der Korruptionsbekämpfung ist die Einbindung arabischer Expertise, etwa aus den Golfstaaten oder Jordanien, ratsam. Diese Länder verfügen über bewährte und funktionierende Strukturen in der Korruptions-bekämpfung und könnten hier wertvolle Beiträge leisten.
3. Wirtschaftshilfe: Ein „Marschall-Plan“ für den Libanon
Die schwere Wirtschafts- und Bankenkrise im Libanon erfordert umfassende Maßnahmen, die sowohl akute Not lindern als auch den Menschen Perspektiven für eine Zukunft im eigenen Land bieten. Der Libanon, einst ein führendes Dienstleistungs-, Tourismus- und Finanzzentrum im Nahen Osten, befindet sich seit 2019 in einer der schwersten Wirtschaftskrisen des 21. Jahrhunderts. Besonders der Verlust hervorragend ausgebildeter junger Libanesinnen und Libanesen durch einen nahezu beispiellosen „Brain-Drain“ stellt das Land vor enorme Herausforderungen. Die ohnehin prekäre Wirtschaftslage hat sich durch die Zerstörungen des jüngsten Kriegs mit Israel und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Schäden weiter verschärft. Die Weltbank schätzt den Gesamtschaden auf 8,5 Milliarden US-Dollar.
Um dem Libanon nach den kumulierten Katastrophen der letzten Jahre zu helfen, ist eine breite wirtschaftliche Unterstützung unerlässlich, um das Land zu stabilisieren. Insbesondere Frankreich und Saudi-Arabien haben durch prominente diplomatische Initiativen (z.B. Internationale Geberkonferenzen) den Wiederaufbau des Libanon in den vergangenen Jahrzehnten konstruktiv begleitet. Ihre diplomatischen Netzwerke und die finanziellen Ressourcen Europas und der Golf-Region sind heute gefragter denn und könnten eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der aktuellen Krise spielen.
4. Libanon-Friedenskonferenz und nationaler Dialogprozess:
Der Libanon steht an einem kritischen Punkt seiner Geschichte. Präsident Emmanuel Macron betonte die Dringlichkeit einer Lösung: „Jetzt, mehr denn je, braucht der Libanon einen Präsidenten, der in der Lage ist, einen nationalen Dialog zu führen, der die Interessen aller Libanesen berücksichtigt. Ebenso benötigt das Land eine Regierung und Reformen, um das Vertrauen internationaler Partner wiederzugewinnen und den Wiederaufbau sowie die Stabilisierung voranzutreiben.“[9]
Die für den 9. Januar angesetzte Präsidentenwahl könnte den politischen Prozess entscheidend beeinflussen und neue Perspektiven eröffnen. Doch die Herausforderungen bleiben immens:
Auch Mohanad Hage Ali[10], Analyst beim Carnegie Middle East Center in Beirut, betont, dass ein nationaler Dialog notwendig sei, „um das Machtvakuum zu füllen, über Verfassungsreformen zu diskutieren, die den interkommunalen Frieden sichern könnten, und einen Zeitrahmen für die Integration der militärischen Fähigkeiten der Hisbollah in die libanesischen Streitkräfte festzulegen.“ Diese sogenannte „Nationale Verteidigungsstrategie“ würde dem libanesischen Staat die ausschließliche Kontrolle über Gewalt verleihen – ein zentrales Thema früherer Dialogrunden.[11]
Die Dringlichkeit der Lage unterstreichen auch jüngste Aussagen von Samir Geagea, früher Warlord im Bürgerkrieg und heute Führer der „Forces Libanaises“, einer rechten christlichen Partei des Landes, deren berüchtigte Miliz nach dem Ende des (verlorenen) Bürgerkriegs ihre Waffen ablegte. Geagea lehnt die Waffen der Hisbollah kategorisch ab und warnte, dass eine „Neubewertung des politischen Systems“ erforderlich sein könnte, sollte es keine „grundlegenden Veränderungen“ geben.[12] Es gehört nicht viel Fantasie dazu, die Drohung zu entziffern.
Die kommenden Wochen und insbesondere die Präsidentenwahl Anfang 2025 könnten entscheidend für die Zukunft des Libanon sein – ob als Wendepunkt oder als weitere Etappe in der politischen Sackgasse, bleibt abzuwarten.
Um den gesellschaftlichen Dialog- und Aussöhnungsprozess zu fördern, könnte Deutschland gezielt Mittlerorganisationen wie die deutschen politischen Stiftungen, Kirchen, auf Dialog- und Konfliktprävention spezialisierte Organisationen sowie Gewerkschaften fördern, um ihre Arbeit im Libanon auszubauen. Dabei ist sicherzustellen, dass diese Maßnahmen nicht in die eigenen Zielgruppen und Echokammern wirken, sondern tatsächlich dazu beitragen, die Gräben zwischen den rivalisierenden politischen und gesellschaftlichen Lagern im Libanon zu überbrücken und einen konstruktiven Austausch zu ermöglichen.
5. Regionale Konfliktlösung und Friedensbemühungen
Der Libanon ist aufgrund seiner Fragilität und Heterogenität besonders anfällig für die Auswirkungen regionaler Konflikte. Die Annahme, dass sich der Libanon inmitten einer instabilen Konfliktregion als „Insel“ erfolgreich stabilisieren könnte, ohne dass ein umfassender regionaler Entspannungsprozess eingeleitet wird, ist unrealistisch.
Um zentrale Konfliktursachen zu entschärfen, Radikalisierung entgegenzuwirken und die Voraussetzungen für eine regionale Stabilisierung zu schaffen, muss Europa seinen Einfluss gezielt für eine gerechte und nachhaltige Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nutzen, angefangen mit einem Waffenstillstand in Gaza und der Freilassung der Geiseln. Die Nahost-Politik des neuen US-Präsidenten wird hierbei von entscheidender Bedeutung sein, wenngleich die bisherigen Signale seiner Administration widersprüchlich erscheinen.
Von besonderer Relevanz für den Libanon sind Entwicklungen im großen Nachbarland Syrien, mit dem der Libanon historisch eng verflechtet ist. Eine (demokratische) politische und wirtschaftliche Transformation Syriens ginge auch für den Libanon mit großen Chancen für eine Intensivierung des Austauschs, des Handels und der nachbarschaftlichen Beziehungen einher. Vor dem Hintergrund der großen syrischen Flüchtlingspopulation, die der Libanon beherbergt, kann die antizipierte Rückkehr der Flüchtlinge in ein befriedetes Syrien für beide Länder vorteilhaft sein.
Die verschobene Machtbalance in der Region, aber auch innerhalb des Irans vor dem Hintergrund der geschwächten „Achse des Widerstands“ schafft zudem neue, eventuell vorteilhafte Rahmenbedingungen für erfolgreiche Diplomatie.
Gelingt es, die zentralen regionalen Konflikte durch Diplomatie und Kooperation auf dem Boden des internationalen Rechts zu entschärfen, wird dies auch langfristig ein Umfeld schaffen, das Stabilität, Entwicklung und Zusammenarbeit im Nahen Osten fördert – und damit auch dem Libanon zugutekommt.
[1] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/11/26/joint-statement-from-president-biden-of-the-united-states-and-president-macron-of-france-announcing-a-cessation-of-hostilities/
[2] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2024/11/26/remarks-by-president-biden-announcing-cessation-of-hostilities-between-israel-and-hezbollah/
[3] https://news.un.org/en/story/2024/10/1155221
[4] https://www.nytimes.com/2024/12/08/world/middleeast/iran-reaction-assad-syria.html
[5] Zu deutsch: „Die Berliner Mauer der Einheit für die Achse des Widerstands ist gefallen. Das war's“
[6] Zu deutsch: „Der Sturz Assads setzt ein Ausrufezeichen hinter die Tatsache, dass Jahrzehnte iranischer Strategie und Investitionen in der Levante innerhalb weniger Wochen zunichtegemacht wurden.“
[7] www.naharnet.com/stories/en/309590-macron-urges-respect-for-ceasefire-calls-on-hezbollah-to-facilitate-consensus
[8] Hintergrund: https://www.forbes.com/sites/noamraydan/2020/09/03/the-difficult-task-of-offering-aid-to-lebanons-ailing-power-sector/
[9] https://www.naharnet.com/stories/en/309590-macron-urges-respect-for-ceasefire-calls-on-hezbollah-to-facilitate-consensus
[10] https://carnegieendowment.org/people/mohanad-hage-ali?lang=en
[11] https://www.foreignaffairs.com/israel/israel-brings-its-gaza-strategy-lebanon?check_logged_in=1&utm_medium=promo_email&utm_source=lo_flows&utm_campaign=article_link&utm_term=article_email&utm_content=20241204
[12] https://www.naharnet.com/stories/en/309682-geagea-rejects-hezbollah-arms-says-may-reevaluate-political-system-if-no-change-occurs