Ukraine-Krise
„Die EU muss Handlungsfähigkeit und Souveränität gewinnen"
In den letzten Jahren hat das Konzept der „strategischen Autonomie“ in der politischen Debatte auf dem europäischen Kontinent und in der EU an Bedeutung gewonnen. In einer gemeinsamen Publikation in Zusammenarbeit mit der London School of Economics and Political Science analysiert die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit eine Vielzahl neuer Sicherheits- und Verteidigungsinitiativen. Mit Gerlinde Groitl, Politikwissenschaftlerin und einer der Autoren der Publikation, sprechen wir über die Herausforderungen Europas angesichts der aktuellen Situation an der ukrainischen Grenze.
In "Beyond Autonomy" schreiben Sie über die Aufgabe Europas, ein strategisch gut aufgestellter souveräner Akteur zu werden. Was für ein Akteur könnte das sein?
Die 27 Mitgliedsstaaten der EU sind mit den Zwängen der globalisierten, konfliktträchtigen Welt konfrontiert und alleine zu schwach, ihre Interessen und Werte zu verteidigen. Die EU könnte mit dem gebündelten Gewicht ihrer Mitglieder auftreten, kann dieses Potenzial aber bislang nicht ausschöpfen und droht zum Spielball anderer Mächte zu werden. Eine strategiefähige und souveräne EU wäre in der Lage, Machtressourcen zielgerichtet in kollektiven Einfluss zu übersetzen und selbstbestimmt die Spielregeln der internationalen Ordnung mitzugestalten. Sie wäre aber trotzdem nicht „autonom“. Der Begriff der „strategischen Autonomie“ aus der EU-Globalstrategie von 2016 suggeriert, dass die EU alleine agieren könne und solle. Oft wird das als Abkopplung von den USA und der NATO verstanden. Aus meiner Sicht ist das falsch. Die EU muss Handlungsfähigkeit und Souveränität gewinnen, wird in einer vernetzten Welt jedoch nie autonom sein und immer Partner brauchen.
Wie kann Europa seine strategische Machtprojektion und Souveränität verbessern?
Seit Jahren gibt es Reformprozesse, um die EU in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stärken. Es ist noch viel zu tun, aber drei Punkte möchte ich hier ansprechen. Das Mindset der EU muss sich ändern. Dialog und Kompromiss gehören zu ihrem Wesenskern, aber äußere Konflikte lassen sich nicht immer auflösen, es braucht Stärke und Durchsetzungsfähigkeit. Um innere Blockaden zu überwinden, müssen die Möglichkeiten zur Flexibilisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik genutzt werden. Zuletzt ist eine intensive Partnerschaftspolitik wichtig, um internationale Regelbrüche gemeinschaftlich verhindern bzw. ahnden zu können.
Warum ist das gerade jetzt notwendig, insbesondere angesichts der Situation an der ukrainischen Grenze?
Die Welt verändert sich zu unserem Nachteil. Erstens haben die Staaten des Westens relativ an Macht verloren und China ist heute ein ernstzunehmender politischer, ökonomischer, normativer und technologischer Konkurrent. Zweitens sind Demokratie, Marktwirtschaft und Freiheit nicht länger auf dem Vormarsch, sondern weltweit bedrängt. Drittens wollen revisionistische Staaten wie Russland und China die regelbasierte internationale Ordnung umgestalten. Der aktuelle russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine ist dafür nur ein Beispiel. Die EU muss sich besser aufstellen, um diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.
PD Dr. Gerlinde Groitl ist Politikwissenschaftlerin im Bereich Internationale Politik und transatlantische Beziehungen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die USA, die amerikanische, deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die europäisch-amerikanischen Beziehungen sowie Großmachtkonkurrenz und Weltordnungsfragen.
Die EU am Scheideweg: Strategische Autonomie als strategisch versierte Souveränität
Die Ukrainekrise zeigt, dass die EU ihre Sicherheitspolitik überdenken muss. Obwohl sich die EU zu "strategischer Autonomie" verpflichtet hat, stößt ihr Streben auf zahlreiche konzeptionelle und praktische Hürden. Die EU muss als Schutzschild für ihre Mitglieder konzipiert werden, der entschlossener aufgebaut und flexibel eingesetzt werden kann.