Erdoğan-Besuch
Die "neue" türkische Deutschland-Politik
Dieser Artikel wurde am Mittwoch, den 26. September 2018 im Focus Online veröffentlicht und ist online auch hier zu finden.
Trotz der anbrechenden "Götterdämmerung" in der größten Regierungspartei, deren Presseecho alles andere zu überlagern scheint, schauen die deutschen Medien mit Spannung und einer gewissen Sorge auf einen Gast, der heute der Einladung von Bundespräsident Steinmeier zu einer Staatsvisite folgen wird: Recep Tayyip Erdoğan.
Der Präsident der Türkei, setzt erstmalig seit 2014 wieder seinen Fuß auf deutschen Boden. Die deutsche Öffentlichkeit hat die Ereignisse der letzten Jahre, die zu einer bis dato ungekannten, extremen Belastung der bilateralen Beziehungen geführt hatte, nicht vergessen. Wie aber sehen die Erwartungen der türkischen Gäste und der türkischen Medien aus?
Zunächst ist festzuhalten, dass die Türkeigegenwärtig von der immer deutlichere Züge gewinnenden Wirtschaftskrise, von der politischen und wirtschaftlichenKonfrontation mit den USA und vor allem von den Ereignissen in und um Syrien (Stichwort: Idlib)) geprägt ist.
Daneben tritt die große Reiselust des - fest wie eh und je in seinem Amtssessel sitzenden – Präsidenten eher in den Hintergrund. Quasi vorgestern noch verhandelte der Präsident mit den Staatsoberhäuptern der Turk-Staaten in Kirgistan, gestern mit Putin und Rohani in Teheran über die Zukunft Syriens, heute präsentiert er sich als Redner vor der UN-Vollversammlung und als – auch hier ungewohnt: bedächtiger – Kritiker der fortgesetzten Dominanz der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in den Vereinten Nationen und als Verteidiger vertragsbasierter Handelsbeziehungen.
Wer soll in Anbetracht dieser schwindelerregenden Reisetätigkeit noch eine Auge dafür haben, dass es sich der "Weltpolitiker" Erdoğan nun nicht nehmen lässt, auch das so viel gescholtene und immer wieder mit besonderer Verve attackierte Deutschland mit einem Besuch zu beehren?
Was qualifiziert Deutschland dazu, dass ihm der Staatslenker vom Bosporus gerade jetzt einen Besuch abstattet? Hat Deutschland seine Haltung zu den im Lande agierenden kurdischen Organisationen überdacht und sie endlich als das "erkannt", was sie nach türkischer Auffassung schon immer darstellten: nichts anderes als der verlängerte Arm der terroristischen PKK, der ja auch Deutschland den Kampf angesagt hatte, der man nach türkischer Überzeugung aber viel zu viele Freiheiten zugesteht?
Wo ist die deutsche Abkehr von der Laissez-faire-Politik gegenüber den "FETÖ-Terroristen" der Gülen-Bewegung, die aus Sicht Ankaras in Deutschland einen "sicheren Hafen" gefunden haben? Wo ist schließlich das deutsche Verständnis für die Sicherheitsbesorgnisse der Türkei in Syrien, die das Land mittlerweile zu einem aktiven Kriegspartner im syrischen Bürgerkrieg gemacht hat?
Türkische Presse sieht "Good Will" der Türkei
Wenn man nach der Antwort für so viel "Entgegenkommen" trotz fortgesetzter und "unfreundlicher" deutscher Missachtung, ja mutwilligem Nicht-Verstehen-Wollens der spezifischen Interessen und Sorgen der Türkei fragt, dann fällt der weitgehend regierungsgesteuerten türkischen Presse der eben "trotz alledem" weiterhin vorhandene "Good will" der Türkei ein.
Für den Partner Deutschland sei die Türkei ja ein so wichtiger Wirtschaftspartner und ein Land, das sich – auch gerade im deutschen Interesse – der Flüchtlingswelle aus den Konfliktregionen des Nahen Ostens entgegenstemme. Dieses Land verdiene eben den – auch pekuniären – Dank der EU sowie eine Änderung der negativen Haltung der EU gegenüber den fortgesetzten Bestrebungen zu einer Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen und vor allem zu einer Novellierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei, die ja "in beiderseitigem Interesse" läge.
Probleme sind "Schnee von gestern"
Wer täglich "in Funk und Fernsehen" mit Argumenten dieses Kalibers überschüttet wird – und dies trifft auf einen hohen Prozentsatz der türkischen Bevölkerung zu - , dem dürfte eventuell gar nicht bewusst werden, dass der türkische Staatspräsident, der sonst nicht genug und wortgewaltig vor Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit gerade in Deutschland warnen kann, auf einmal "Kreide gefressen" zu haben scheint.
Da ist vom "Ad-acta-Legen" von "Verstimmungen" der jüngeren Vergangenheit, von der Bedeutung der Partnerschaft und der Vielzahl gemeinsamer Interessen die Rede. Lästige deutsche Kritik am Zustand von Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei, insbesondere nach Einführung des Präsidialsystems?
Bigotte deutsche Kritik gar an der Inhaftierung von Journalisten, Menschenrechtlern und Abertausenden von Bürgern, denen mit zweifelhafter Faktenlage die Verbindung zu terroristischen Organisationen zur Last gelegt wird? – Ach, das ist doch Schnee von gestern. Lasst uns einfach nach vorne schauen! Halt: nichts bereuen – alles vergessen.
Neue Phase der deutsch-türkischen Beziehungen setzt gravierende Veränderungen voraus
Wer diese "neue" türkische Deutschlandpolitik in Anbetracht der ungebremsten Wirtschaftskrise des Landes für bare Münze nähme, der könnte nur als fahrlässig naiv – und bar jeder politischen Vernunft bezeichnet werden. Eine neue Phase der deutsch-türkischen Beziehungen setzt gravierende Veränderungen der politischen Realitäten in der Türkei voraus.
Und dabei geht es um weit mehr als die Freilassung einiger, zum Teil seit vielen Monaten inhaftierter Bundesbürger. Dann und nur dann ließen sich (vorsichtige) deutsche Signale des "Good will" rechtfertigen. Diejenigen, die die Türkei mutwillig und sehenden Auges in die Wirtschaftskrise geführt haben, stehen in der Verantwortung, die nachhaltige Kursänderung einzuleiten.
Die Fortsetzung des am Bosporus sehr beliebten Spiels, "ausländische Mächte" zu attackieren, statt eigene Fehler einzugestehen, muss aufhören.