Nicaragua
Die sandinistische Revolution frisst ihre Kinder
Seit dem 18. April toben in Nicaragua Auseinandersetzungen zwischen Regimegegnern und Polizei, Paramilitärs und bewaffneten sandinistischen Jugendgruppen. Nachdem sich die Proteste an einer geplanten Reform der Sozialsysteme entzündet hatten, geht es den zumeist jungen Demonstranten mittlerweile grundsätzlich um eine Rückkehr zu Demokratie und politischer Teilhabe in dem zentralamerikanischen Staat.
Der am 18. Juni veröffentlichte Bericht des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs (CIDH) zu den Menschenrechtsverletzungen seit Beginn der Unruhen in Nicaragua Mitte April macht fassungslos. Weit über 200 Tote – darunter erschreckend viele Minderjährige, in nur zwei Monaten. Andere Berichte sprechen eine Woche später bereits von knapp 300 Opfern. Dazu kommen zahlreiche Entführungen, Folter und unzählige Verletzte: Nicaragua ist 39 Jahre nach der sandinistischen Revolution nahezu wieder dort angekommen, wo es beim Umsturz der Somoza-Diktatur Ende der 70er Jahre stand. Damals war das bevölkerungsmäßig kleine Land mit heute rund 6 Mio. Einwohnern Schauplatz eines blutigen Stellvertreterkrieges des Kalten Krieges und die Revolutionstruppen genossen durch ihren Kampf gegen das Unrechtsregime des Somoza-Clans weltweit Sympathien.
Davon ist nicht viel übrig geblieben: nur die anderen verbliebenen Diktatoren des Subkontinents versuchen noch das aktuelle Gemetzel zu rechtfertigen. Venezuela natürlich, Cuba, aber auch moderatere Vertreter des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wie Bolivien. Daniel Ortega, seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo haben sich das bitterarme Land in den letzten Jahren regelrecht unter den Nagel gerissen. Wie einst der Diktator Somoza kontrollieren sie die wesentlichen Wirtschaftszweige, haben die unabhängigen Oppositionsparteien de facto aus dem Spiel genommen und die Institutionen des Staates zu willfährigen Handlangern ihrer persönlichen Macht- und Vermögensziele verkommen lassen. Nicaragua trägt inzwischen immer mehr die Charakterzüge einer „Kleptokratie“, in der die persönliche Bereicherung zur politischen Handlungsmaxime des autoritär-herrschenden Clans geworden ist.
Derzeit ist noch völlig unklar, wie es nun weitergeht. Ein zwischenzeitlich unterbrochener Dialogprozess zwischen Regierung und zivilgesellschaftlichen Gruppen unter Führung der katholischen Kirche wurde zwar wieder aufgenommen, kommt aber nicht voran. Bislang hat sich Daniel Ortega noch nicht zu dem entscheidenden Vorschlag geäußert, vorgezogene Neuwahlen im März 2019 statt regulär im Jahr 2021 zu akzeptieren. Des Weiteren ist es kaum vorstellbar, dass die zivilgesellschaftliche Opposition eine erneute Kandidatur Ortegas oder seiner Frau zulassen würde; dafür klebt bereits zuviel Blut an den Händen des Diktatorenpaares. Ein unmittelbarer Weg aus der Krise wäre ein Rücktritt des Ehepaars Ortega/Murillo, doch danach sieht es bislang nicht aus. Zudem wären ohne eine richtige Wahlrechtsreform auch Neuwahlen unsicher und eine Farce, denn frei und fair sind Wahlen in Nicaragua schon lange nicht mehr. Ohne das Vertrauen in transparente und freie Wahlen könnte auch dieser Beitrag zu einer politischen Lösung der aktuellen Krise einfach verpuffen oder im schlimmsten Fall die Gewalt erneut anfachen. Erfreulich ist, dass das EU-Parlament die Repressionsmaßnahmen mit überwältigender Mehrheit verurteilt hat und ebenfalls Neuwahlen anmahnt.
Abgesehen von der EU war die Reaktion der internationalen Gemeinschaft widersprüchlich. Auf ihrer Generalversammlung in Washington Ende Mai 2018 konnte sich die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nur zu Appellen durchringen und musste dafür viel Kritik einstecken. Mit der Vorstellung des Berichts des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes, einer autonomen Unterorganisation der OAS, werden die Tatsachen aber nun endlich benannt. Von „exzessiver Gewaltanwendung“ ist die Rede und davon, dass Nicaragua „das Recht auf Leben, persönliche Unversehrtheit, Gesundheit, persönliche Freiheit, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie das Recht auf den Zugang zum Rechtssystem“ verletzt habe. Auf internationalen Druck hat das Regime in Nicaragua schließlich sowohl eine Kommission des CIDH als auch einen Vertreter des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen und die EU eingeladen.
Eine Schlüsselrolle spielt in der aktuellen Situation ein Partner der Stiftung, Félix Maradiaga. Als einer der profiliertesten Liberalen und Menschenrechtsaktivisten des Landes hatte er Social-Media-Kanäle klug genutzt, um seine Landsleute über die Entwicklungen auf der Straße auf dem Laufenden zu halten. Im Mai war er in Washington, um am Rande der OAS-Versammlung auf die Situation in Nicaragua aufmerksam zu machen. Das Regime nutzte seine Abwesenheit, um ihn mit haltlosen Anschuldigungen zu konfrontieren, u.a. werden ihm Terrorismus und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. In Managua hoffte man darauf, mit diesen absurden Vorhaltungen einen bedeutenden Regimekritiker – mit dazu erheblichem Mobilisierungspotenzial und großen Sympathiewerten in der Bevölkerung – dauerhaft außer Landes zu halten.
Für den Ortega Clan und seine gewaltbereiten Milizen eignet sich Maradiaga als klassisches Feindbild und lenkt so von den hausgemachten Problemen ab. Maradiaga hatte in den letzten 18 Jahren verschiedene Leitungspositionen in der öffentlichen Verwaltung und in der Privatwirtschaft in Nicaragua. Er ist Absolvent der Kennedy School in Harvard, „Yale World Fellow“, „Young Global Leader“ des World Economic Forum und wurde 2015 mit den „Gus Hart Award“ des Chicago Council on Global Affairs für seinen herausragenden Beitrag zu sozialem Unternehmertum und Innovation in Zentralamerika geehrt. Forbes Magazin kürte ihn zudem 2016 zu einem der 25 einflussreichsten Zentralamerikaner.
Angesichts dieser Vita fällt es dem Regime nicht schwer, die alte „imperialistische, neo- koloniale“ Verschwörungsrhetorik zu bedienen und Maradiaga als „terroristischen“ Handlager kapitalistischer und US-amerikanischer Interessen darzustellen. Doch diese Rhetorik hat in der vernetzten Welt ihre Grenzen. Angesichts der aktuellen Lage im Land ist ihr im Allgemeinen wenig Glaubwürdigkeit beschienen.
Gegen den Rat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die sich angesichts der Brutalität des Regimes Sorgen um seine körperliche Unversehrtheit macht, ist Félix Maradiaga am vergangenen Dienstag nach Nicaragua zurückgekehrt. Er will dort mit zivilgesellschaftlichen Gruppen an einer Lösung der Krise arbeiten. Durch die Unterstützung von Menschenrechtsgruppen wurde er bei seiner Einreise entgegen ersten Befürchtungen nicht verhaftet.
Dem Druck von Innen sollte der finanzielle Druck auf den Ortega-Clan von außen folgen. Nachdem Deutschland als Reaktion auf die verfassungswidrige Wiederwahl Daniel Ortegas bereits 2012 die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit eingefroren hat, haben jetzt weitere Länder wie die Schweiz angekündigt, ihre Programme zu stoppen. Dies sind wichtige Warnsignale an Ortega, aber auch Unterstützungsnachrichten für die Opposition. Sie müssen intensiver fortgeführt werden, denn ein „Weiter so“ kann es nicht geben. Nicaraguas Demokraten leiden nicht zuletzt darunter, dass das Land sehr weit entfernt und geostrategisch für Europa wenig bedeutend ist. Trotz Weltmeisterschaft und parlamentarischer Sommerpause darf die Staatengemeinschaft jetzt aber nicht wegschauen, denn die Nicaraguaner kämpfen derzeit für ihre größte Chance auf einen demokratischen Wandel seit vielen Jahren.
David Henneberger ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Zentralamerika