Stadtentwicklung
Die Stadt der Zukunft ist liberal
In der Stadtentwicklung prallen oft ökologische und konservative Imperative aufeinander. Doch jenseits dieser Dualität ist auch eine originär liberale Haltung denkbar. In diesem Essay entwickeln die Politikerin Sandra Weeser und der Publizist Alexander Gutzmer Leitlinien für eine liberale Stadtentwicklung.
„Die Stadt zu lieben, heißt die Stadt zu lassen.“ Mit diesem vermeintlich einfachen Statement beginnt ein Buch des Soziologen Andreas Thiesen. „Urban Love Stories“ heißt es, und verspricht im Untertitel „Geschichten aus der transformativen Stadt“. Jene liefert Thiesen in seinem Buch. Und genau deshalb ist das Statement alles andere als simpel. Denn der Stadt ihre Transformationen und Häutungen zu „lassen“, sie nicht zugrunde zu regulieren, ihre Entfaltungstendenzen nicht abzuwürgen, das scheint so gar nicht dem heutigen Zeitgeist zu entsprechen. Für uns hingegen liefert der Ansatz quasi die Steilvorlage für diesen Text. Denn eine Stadt, deren Transformationen man schätzt, der man Raum lässt zur Selbstentfaltung, zur Kreativität, zur Erzeugung und Austestung neuer Kulturen – ist das nicht auch eine liberale Stadt?
Um diese soll es in diesem Essay gehen. Wir wollen die virulenten Debatten über unsere Metropolen von heute und morgen einem liberalen Lackmustest unterziehen. Was an dem, was wir heute unter zeitgemäßer Stadtentwicklung verstehen, ist überhaupt „liberal“ und was nicht? An welchen Stellen geben wir vielleicht dem Primat allumfassender Planung und Kontrolle unreflektiert den Vorrang zu einer Metropolenpolitik, die offen agiert, chancenorientiert, positiv, eben liberal? Und entlang welcher Leitlinien ließe sie sich definieren, die liberale Stadt, als Ideal, aber auch als gelebte politpraktische Realität?
Fest steht: In Zeiten supranationaler geopolitischer Verwerfungen steigt das Bedürfnis nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Das gilt auch für unsere Städte. Die Stadt als Produzent eines möglichst sicheren Wohnumfeldes rückt damit verstärkt in den Fokus. Aber was bedeutet dieser Ruf nach „Sicherheit“? Kann man nicht auch an zu viel Sicherheit ersticken? Beinhaltet das Versprechen von „Stadt“ nicht immer auch ein Momentum des nicht Planbaren, des Offenen, der Schöpfung von Neuem - auch wenn dies eben keine allumfassende „Sicherheit“ verspricht? Und könnten daher nicht die zahllosen Spielstraßen und ausschließlich sicherheitsorientierten Komplettberuhigungen („Autos raus, Fahrräder raus, alles raus“) die städtische Vitalität abwürgen? Ist Stadt nicht immer auch mehr als das reine Bullerbü-Paradies?
Außerdem stellt sich die Frage, was wir überhaupt unter „Sicherheit“ verstehen. Diese bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Verbrechen, Autoverkehr oder anderen Risiken. Sie bedeutet vor allem auch urbane Zugehörigkeit. Städte sind Orte der Identifikation. Stadt liefert die emotionalen Ankerpunkte, von denen wir sagen: Ja, diese Gebäude, diese Plätze, diese Infrastrukturen „gehören“ zu uns. Dies rückt auch die Architektur in den Fokus. Denn Architektur, gute, mutige, spannende, progressive Architektur stiftet diese Form der Identifikation.
Städte als Plattform des politischen Ausdrucks
Zugleich sind Städte auch Plattformen des politischen Ausdrucks. Als Anfang 2024 Millionen Menschen gegen Rechtspopulismus demonstrierten, konnten wir eindrücklich erleben, welche gesellschaftlichen Dynamiken sich im städtischen Raum entfalten können. Und dass unsere Stadträume für bürgerlichen Zusammenhalt und gelebte Demokratie stehen. Diese gelebte Auseinandersetzung um gesellschaftliche Werte macht unsere urbanen Räume zu Brennpunkten des Wandels und zu zentralen Treibern des zivilisierten Diskurses.
Unsere Städte sehen sich indes mit Herausforderungen konfrontiert, deren Bekämpfung weit über regionale Einflussbereiche hinausreicht und eine koordinierte Herangehensweise auf transnationaler Ebene erfordert. Der Klimawandel zum Beispiel macht sich insbesondere in den städtischen Ballungszentren durch Hitzewellen und vermehrt auftretende Extremwetterereignisse bemerkbar. Dies erfordert globale Anstrengungen – und zugleich die konstruktive Zusammenarbeit der Metropolen europa- oder besser gleich weltweit. Denn nur so werden Best Practices global geteilt. Und so kann sich jede Stadt mit ihren eigenen Erfahrungen im Sinne einer städtischen Weltgesellschaft einbringen.
Während manche Schmalspur-ideologische Debatten ums Auto und eine gerechte Verteilung der Mangelware Stadtfläche führen, herrscht anderswo ein gewisser konservativer Bewahrungszwang vor. So festgefahren, wie die Debatten zwischen diesen beiden Polen aktuell geführt werden, bieten sie keine adäquate Antwort auf die Fragen unserer Zeit. Klimaneutrale Gebäude ohne ästhetischen oder kontextuellen Anspruch machen eine Stadt genauso wenig lebenswert wie Wiederaufbauprojekte mit besorgniserregend hohem CO2- Fußabdruck und fragwürdig reaktionär-baukultureller Haltung. Ein dritter Weg, der mehr Freiheit und Individualität wagt, wird kaum erkundet.
Nehmen wir exemplarisch die Debatte um den Wiederaufbau der Schinkelschen Bauakademie in Berlin. Hier scheint es nur zwei Grundrichtungen zu geben: die eine, die ein wie auch immer geartetes ökologisches Vorzeigegebäude errichten will. Die andere, der ein Klon des Ursprungsbaus vorschwebt, baulicher Historismus also. Doch sind das die einzigen Optionen? Wäre nicht eine Form der Architektur denkbar, die kulturell mutig daherkommt, die ein sichtbares Zeichen für die diverse, kreative Metropole Berlin darstellt, ohne das Stadtleben ausschließlich auf das Leben im Klimawandel zu reduzieren? Ein Gebäude, das Zukunftsfreude und Optimismus ausstrahlt?
"Stadt ist der Ort, an dem wir selber gestalten"
Das wäre, für uns, liberale Stadtentwicklung. Eine Stadtentwicklung, die den Menschen ihren Optimismus zurückgibt. Die zeigt: Wir können Städte gestalten. Wir sind nicht zum Reagieren auf die diversen gefühlten oder realen Krisen unserer Welt gezwungen. Stadt ist der Ort, an dem wir selber gestalten. Wir sind im Urbanen Driver Seat – oder auch am urbanen Fahrradlenker.
Auf die facettenreichen städtebaulichen Herausforderungen kann nur ein liberaler Ansatz wirklich antworten. Wir müssen aber endlich den Mut zum Experiment beweisen. Neue Ideen zulassen und diese mit einer gesunden Balance aus Qualitätsanspruch und Pragmatismus umsetzen. Ein Beispiel hierfür ist der neue Gebäudetypus E. Dieser macht das Bauen einfacher und erlaubt das Experiment. In diesem Sinn müssen wir unsere Bauordnungen weiter entschlacken und das Bauen – auch für die momentan kriselnde Immobilienwirtschaft – wieder attraktiv machen. In diesem Geist brauchen wir auch wieder mehr Mut in den Verwaltungen. Der einzelne Beamte kann – und muss – schnell und unabhängig entscheiden. Eine ängstliche Kultur des „Im Zweifel nein“ können wir uns nicht mehr leisten.
Wir müssen uns außerdem von der Utopie verabschieden, keine neuen Flächen ausweisen zu müssen. In wachsenden, aufstrebenden Städten brauchen wir das Bauland – wo vorhanden im Zentrum, aber auch in der Zwischenstadt (Thomas Sieverts) oder "auf der grünen Wiese". Ohne weitere Ausweitung oder Umwidmung von Flächen, auch in Randgebieten, werden wir das Wohnungsproblem nicht lösen können. In städtischen Zentren ist Fläche Mangelware, daher müssen wir hier andere Wege gehen.
Diese Wege beginnen mit einer digitalen Bestandsaufnahme. Welche Gebäude eignen sich überhaupt für eine Aufstockung, wo liegen Brachflächen, die versiegelt werden könnten, welche Gewerbefläche könnte man in Wohnraum umwandeln? Solange wir darüber keine validen Daten haben, wird das Flächenmanagement immer flickenteppichartig bleiben. Das digitale Flächenkataster ist ein zentrales Werkzeug, um dem Wohnungsmangel effizient zu begegnen.
Aber auch der gesetzliche Rahmen muss angepasst werden. 16 verschiedene Landesbauordnungen sind ein echtes Nadelöhr für schnellen und kostengünstigen Wohnungsbau. Eine Musterbauordnung existiert bereits, diese muss aber novelliert werden. Die beste Musterbauordnung ist nur ein Papiertiger, wenn sich nur einzelne Bundesländer daran orientieren. Alleingänge und Sonderregelungen bremsen den Bauaufschwung aus. Auch das Baugesetzbuch braucht eine Neuauflage. Alle veralteten Regeln, die Bauen in der Praxis erschweren, müssen weichen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Deutschland bereits eine sehr gute Bilanz im Gebäudesektor hat. Wenn wir Auflagen und Dämmvorschriften weiter befeuern, bringen wir den Neubau vollständig zum Erliegen.
Pragmatismus und Innovation: Wege zur lebenswerten Stadt
Es ist an der Zeit, einen ehrlichen Ansatz zu verfolgen. Dazu gehört auch die Erkenntnis: Immer höhere Energieeffizienzstandards bedeuten, dass es irgendwann womöglich überhaupt keinen bezahlbaren Wohnraum mehr gibt. Richtig wäre, die Auflagen beim Neubau zu senken - und zugleich die Anstrengungen bei der Sanierung des Bestandes zu intensivieren. Begleitet durch die richtige Förderkulisse. Keine Gießkanne, keine Fehlallokation, keine bürokratischen Hürden. Wir brauchen wieder mehr Flexibilität und Pragmatismus!
Pragmatismus und Flexibilität braucht es auch im Bereich der Smart City. Die digital unterstützte Stadt ist eine ökonomisch sinnvolle und urliberale Idee. Sie darf aber nicht der kompletten Kontrollgesellschaft Tür und Tor öffnen. Die digital erhobenen Daten müssen uns helfen, dürfen uns aber nicht jegliche privaten Entfaltungsspielräume nehmen.
Derlei Spielräume brauchen Städte auch, um noch stärker zum Treiber des ökonomischen Umbruchs zu werden. Unsere Metropolen können zum Nährboden einer noch vitaleren Startup-Szene werden. Berlin und München spielen diesbezüglich schon eine gute Rolle. Aber wir müssen uns bewusst sein: Auch hier befinden sich die Standorte im globalen Wettbewerb. Nur die Stadt mit den besten Wissensclustern wird auch künftig Talente anziehen und für die Gründung der spannendsten Startups das richtige Pflaster liefern.
Dazu gehört auch eine Mobilität, die Chancen bietet, nicht Probleme kreiert. Stadt, so wie wir sie verstehen, kombiniert alle verfügbaren Angebote zu einem menschenfreundlichen Gesamtsystem. Fahrradfahren ist möglich, Autofahren auch. Der ÖPNV funktioniert – im Idealfall rund um die Uhr. Innovationen wie urbane Seilbahnen werden integriert und schaffen neue Möglichkeiten, aber vor allem auch ein neues urbanes Mobilitätserlebnis. Wir freuen uns sehr auf die Ergebnisse der Internationalen Bauausstellung zum Thema „Räume der Mobilität“, die gerade in München startet.
Der Begriff „Erlebnis“ sollte sich eigentlich auch auf die Realität unserer urbanen Zentren beziehen. Momentan aber ist deren Erlebnischarakter gestört. Retail ist in der Krise, viele Einzelhändler müssen aufgeben. Hier werden wir das Rad nicht zurückdrehen können. Wir können aber die Rahmenbedingungen schaffen, um den Handel insgesamt in der Stadt zu halten – eine komplett konsumfreie Innenstadt ist ebenso illusorisch wie letztlich langweilig.
Konsum gehört in die Stadt – ebenso aber wie andere kulturelle Prozesse. Die Idee etwa, aus den früheren Galeries Lafayettes in der Friedrichstraße eine Bibliothek zu machen, finden wir reizvoll. Und auch gelungene Experimente wie das Projekt „aufhof“ im früheren Kaufhof in Hannover zeigen: Die Stadtgesellschaft findet kreative Wege, die Immobilien der womöglich überholten Großeinzelhändler spannend und integrativ zu nutzen.
Hierfür braucht es auch einen architektonischen Innovationsgeist. Der scheint uns momentan nicht hinreichend ausgeprägt zu sein. In der deutschen Architektursprache dominiert die solide, aber auch etwas biedere Unangreifbarkeit. Auch die im Diskurs unisono geforderte ökologische Architektur wirkt oft so beflissen wie öde. Wir möchten Architekten ermuntern, sich etwas zu trauen, nach neuen Ausdruckswegen zu suchen und die kulturelle Funktion ihrer Gebäude nicht geringzuschätzen. Nein, Ästhetik ist nicht alles. Aber ohne Mut zur neuen Form wird auch die nachhaltige Weiterentwicklung unserer Städte nicht das emotionale Momentum entwickeln, das sie braucht.
In den kommenden Jahren wird sich der tiefgreifende Wandel in den Städten fortsetzen. Dabei muss ein Einklang zwischen ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Zielen gefunden werden. Städtische Zentren sind Knotenpunkte für Innovationen, wirtschaftliche Dynamik und Unternehmergeist, aber auch für kulturellen Freigeist. Sie bleiben außerdem die Hauptschlagader für unsere liberale, freiheitliche und friedvolle Demokratie. Und sie können das Zentrum werden, aus dem heraus wir unsere Welt neu denken und neu gestalten. Hort des Optimismus, der Kreativität, der bürgerlichen Souveränität – und damit eines Geistes, der in den vergangenen Jahren ein wenig verloren gegangen ist. Lasst ihn uns wiederbeleben.
Alexander Gutzmer ist Publizist mit den Schwerpunkten Stadtentwicklung und Architektur. Zehn Jahre lang verantwortete er das Architekturmagazin Baumeister und die Zeitschrift für Stadtentwicklung, Topos. Gutzmer ist Professor für Kommunikation und Medien an der Quadriga-Hochschule, wo er das Center for Corporate Architecture and Spatial Identity gründete. Er leitet außerdem die Forschungsabteilung beim Projektentwickler ehret+klein.
Sandra Weeser ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages. Dort ist sie seit 2021 Vorsitzende des Ausschusses für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen. Seit 2022 ist sie zudem Vorstandsmitglied der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. Sandra Weeser ist Mitglied im Bundes- und Fraktionsvorstand der Freien Demokratischen Partei. Sie ist FDP-Vorsitzende im Bezirk Koblenz und gehört dem Landesvorstand an.