Digitalisierung
Digitalisierung ist kein Selbstzweck
In der vergangenen Woche hat der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme zu den „Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz“ veröffentlicht. Der Veränderungsdruck, den KI-gestützte System auf das Bildungssystem ausüben werden, wird darin unterschätzt.
Der Deutsche Ethikrat hat in der vergangenen Woche seine Stellungnahme zu den „Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz“ veröffentlicht. Auf insgesamt 287 Seiten finden sich viele kluge Sätze zum Thema „Mensch und Maschine“, doch das disruptive Potenzial der neuen Technologien wird letztendlich unterschätzt. Sicherlich lässt sich gegen die in der Stellungnahme aufgeführten Empfehlungen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der schulischen Bildung wenig sagen. „Digitalisierung ist kein Selbstzweck“ lautet die erste Empfehlung, ihr Einsatz solle „nicht von technologischen Visionen, sondern von grundlegenden Vorstellungen von Bildung, die auch die Bildung der Persönlichkeit umfassen, geleitet sein“ (S.28). Letztendlich ist dies allerdings nah an dem dran, was der Bildungsexperte Axel Krommer die Trivialisierung der Pädagogik genannt hat: denn nicht einmal Microsoft und Meta fordern, dass Digitalisierung ein Selbstzweck sein solle.
An sich sind die Empfehlungen des Ethikrats alles andere als trivial. Im Gegenteil: Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein anspruchsvolles, am „Humanum“ orientiertes Verständnis von Bildung, welches das Ziel in den Blick nimmt, „den Menschen zu einer mündigen und freien, und das heißt einer zur Verantwortung fähigen Person heranzubilden“ (S.164). Daraus folgt die Kritik am Konzept der Digitalisierung als Selbstzweck: Nicht die „Optimierung von Lernprozessen“, sondern das „grundlegende Bildungsziel urteilsfähiger Selbstbestimmung des Menschen und seiner Handlungsverantwortung“ solle maßgeblich für die Bewertung neuer Technologien sein. Beachtenswert ist dabei auch das Argument, dass sich Bildung „nicht in einer kognitiven Vermittlung von Information“ erschöpfe, sondern „affektive Dimensionen und soziale Kontakte“ einschließe (S.166) – während der Schulschließungen während der Coronapandemie hatte dies häufig noch anders geklungen.
Digitalität statt Digitalisierung
Das grundsätzliche Problem des Gutachtens in Bezug auf das Bildungssystem zeigt sich allerdings darin, dass lediglich „vom Eingang der Digitalisierung in den Bereich der Bildung“ gesprochen wird (ibid.). Sicherlich kann es nicht schaden, die Lehrkräfte mit der „Funktionsweise datenbasierter KI-gestützter Lehr-Lern-Software“ vertraut zu machen und den Einsatz gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen. Doch wie Felix Stalder bereits vor über fünf Jahren herausgearbeitet hat, greift es zu kurz, Digitalisierung alleine als Fortsetzung der Automatisierung mit digitalen Mitteln zu begreifen. Vielmehr hat sich eine neue Kultur der Digitalität herausgebildet, die von Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität geprägt ist. Doch weder Stalder noch das Konzept der Digitalität werden im Gutachten erwähnt, obwohl beide die bildungswissenschaftliche Debatte in den letzten Jahren massiv geprägt haben. Digitalisierung durchdringt nicht einfach nur die Lebenswelt, wie es im Gutachten heißt (S.64), sondern sie ist die Lebenswelt – allerdings nicht deshalb, weil mittlerweile jeder ein Smartphone in der Hosentasche hat, sondern weil – wie es beispielsweise Achim Nassehi herausgearbeitet hat – Digitalisierung eine Antwort auf gesellschaftliche Komplexität ist. Die Aufgabe des Bildungssystems sollte es also sein, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, diese Komplexität zu navigieren und gleichzeitig Methoden der Komplexitätsreduktion, wie sie von der Digitalisierung bereitgestellt werden, kritisch zu hinterfragen. Doch indem vor allem die Technik und nicht die Gesellschaft betrachtet wird, greift das Gutachten zu kurz.
Überhaupt wirkt das Gutachten merkwürdig losgelöst von den bildungswissenschaftlichen Debatten – was auch daran liegen könnte, dass Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler überhaupt nicht herangezogen worden sind. Während junge Schülerinnen und Schüler also längst ihre Hausaufgaben von Chat-GPT erstellen lassen, erklärt das Gutachten die Funktionsweise von Intelligenten Tutorsystemen aus den 1970er-Jahren (S.171). Natürlich ist es nicht falsch, den Einsatz von KI-gestützten Lehr-Lern-Systemen kritisch zu hinterfragen und dabei auch historisch einzuordnen. Sicherlich ist es auch richtig, dass die neuen Systeme „hilfreiche, auf das Individuum zugeschnittene Einzeltools darstellen“ können, ohne aber „die generelle Lösung für Fragen von Inklusion“ zu sein (S.179). Und wer würde widersprechen, wenn gefordert wird, man solle „möglichen Missbrauch und mögliche Risiken“ berücksichtigen. Aber letztendlich unterschätzen diese Empfehlungen das Ausmaß der Disruption: Denn während sich die Gutachterinnen und Gutachter noch fragen, „ob und gegebenenfalls wie sich KI-Technologien in ethisch verantwortlicher Weise in das deutsche Schulwesen integrieren lassen“ (S.183), besteht Chat-GPT4 schon Hochschulprüfungen.
Kupferdraht statt Studierendenrat?
Das Gutachten des Ethikrats enthält durchaus einige Empfehlungen, die beherzigt werden sollten. Dazu gehört beispielsweise der Hinweis auf die Bildungsgerechtigkeit: „KI-basierte Tools [sollten] Lernenden grundsätzlich auch für das Eigenstudium zur Verfügung stehen.“ (S. 185). Auch Warnungen vor der lückenlosen Überwachung des Lernprozesses sollte man ernst nehmen – schon in Heinrich Spoerls Schulroman Die Feuerzangenbowle wird deutlich, dass gerade der von Lehrkräften unbeobachtete Raum für das Bildungserlebnis von zentraler Bedeutung ist. Und schließlich ist es natürlich richtig, dass eine „vollständige Ersetzung von Lehrkräften“ mit einem humanistischen Bildungsideal nicht zu vereinbaren ist (S.186).
Allerdings steht zurzeit überhaupt nicht zur Debatte, den Studienrat durch Kupferdraht zu ersetzen: Im Gegenteil, Lehrkräfte dürften in Zukunft allerdings eher noch wichtiger werden, denn nicht nur Schülerinnen und Schüler werden schon sehr bald vor der Frage stehen, wofür sie eigentlich überhaupt noch etwas Lernen – ChatGPT erledigt doch jede Aufgabe in Sekundenschnelle. Eine mögliche Antwort lieferte jüngst der Lehrer Jan-Martin Klinge im Tagesspiegel: „Die Aufgabe der Schule wird sein, den Kindern zu vermitteln, warum das Rechnen oder das Schreiben von Aufsätzen wichtige Grundkompetenzen sind – die man selbst haben muss, die aber vom Computer sicher irgendwann mal übernommen und unterstützt werden können“, so Klinge, „aber das ändert nichts daran, dass es wichtig ist, dass man solche Dinge kann.“ Hiermit wird dann aber auch deutlich, warum der Ethikrat das Problem vom falschen Ende aus betrachtet hat: es sollte nicht nur um die Chancen und Risiken der Nutzung von KI für den Bildungsprozess gehen, sondern um die Chancen und Risiken von Bildungsprozessen für das Aufwachsen im KI-Zeitalter.
Die Gedichtanalyse nach Schema F wird Chat-GPT zweifelsohne nicht überleben. Doch vielleicht ist gerade dies die große Chance für das Bildungssystem, denn solche Aufgaben haben bereits vor der Ankunft entsprechender Programme den hehren Anspruch humanistischer Bildung kaum erfüllt. Dass Lehrkräfte sich nun Aufgaben ausdenken müssen, die kein Computer übernehmen kann, ist also möglicherweise durchaus ein willkommener Änderungsdruck. Ein Schulunterricht, in dem junge Menschen nicht nur vermittelt bekommen, wie man Ovids Pygmalion übersetzt und zusammenfasst, sondern auch lernen, eigene Überlegungen darüber anzustellen, was der Mythos der zum Leben erwachten Statue für das KI-Zeitalter bedeutet, wäre am Ende vielleicht sogar die Rettung der humanistischen Bildung. ChatGPT ist also genau zur richtigen Zeit gekommen, um daran zu erinnern: nicht nur Digitalisierung, sondern vor allem die Schule sollte kein Selbstzweck sein. Trivial ist das nicht, auch wenn die Einsicht nicht neu ist.