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Rentenreform in Russland
Ein Fall für Putin?

Die Rentenreform in Russland zeigt Schwächen im System Putin
Proteste
Die Proteste gegen die Rentenreform setzen sich fort © CC0 1.0 commons.wikimedia.org/ Andrew.Filin

Die Ankündigung der Erhöhung des Rentenalters hat die Zustimmungsrate des russischen Präsidenten und seiner Regierung fallen lassen. Aufgrund des Widerstands hat Putin die Reform abgemildert, während die Polizei mit Härte gegen die Opposition vorging. Jetzt stimmten die Abgeordneten der Duma für den abgemilderten Gesetzentwurf der Regierung.
Stagnierende Wirtschaft, alternde Bevölkerung und leere Staatskassen machen die Reform notwendig – vor allem solange es keine Strukturreformen gibt, die die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs bringen würden.

Der Tag der Wahl des Moskauer Bürgermeisters und von Mandatsträgern in 80 russischen Regionen am 9. September 2018 wurde überschattet von mehreren Hundert Verhaftungen bei Demonstrationen gegen die Rentenreform in über zwei Dutzend russischen Regionen. Andrej Pivovarov, Oppositionspolitiker aus St. Petersburg, Mitglied der liberalen Partei Parnas und Vorsitzender der Bewegung „Offenes Russland“, nannte die Härte der Reaktion in seiner Heimatstadt eine „Militäroperation gegen die eigene Bevölkerung“. Seitdem die russische Regierung während der Fußballweltmeisterschaft im Juli angekündigt hatte das Rentenalter zu erhöhen, haben sich Bürger im ganzen Land, Kommunisten, Nationalisten bis Liberale zusammengefunden, um gegen die Reform zu demonstrieren. Sogar Parteimitglieder aus der sogenannten Systemopposition, die im Regelfall jedem Gesetzesentwurf der Präsidentenadministration zujubeln, waren dabei. Obwohl Putin durch seinen Pressesprecher Dimitri Peskow jede Verantwortung auf die Regierung abwälzen ließ, fiel nach Umfragen des unabhängigen Lewada Instituts mit der 90-prozentigen Ablehnungen der Reform in der Bevölkerung auch seine Zustimmungsrate von 60 Prozent im Juni auf 48 Prozent im Juli.

Wie in den meisten Ländern Europas verlangten die Kräfte der Demographie einer älter werdenden Bevölkerung bei ausbleibendem Bevölkerungswachstum und der Unterfinanzierung des bestehenden Systems seit Jahren eine Strukturreform. Die Versicherungsbeiträge der Arbeitgeber werden im Jahr 2018 bis zu 70 Milliarden Euro erreichen, was schon heute rund 62 Prozent der Gesamtausgaben des Russischen Pensionsfonds ausmacht. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung ist allein in den letzten acht Jahren die Zahl der Pensionäre um 13,5 Prozent auf 36,3 Millionen gestiegen. Gleichzeitig ist die Anzahl der Arbeitnehmer bei 72,6 Millionen trotz Zuwanderung aus ärmeren Ländern der ehemaligen Sowjetunion leicht rückläufig.

Der Rentenfond wird in Russland so jährlich mit Steuereinnahmen in Höhe von 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gestützt. Die seit 2014 gesunkenen Investitionen und die stagnierende Wirtschaft haben die Staatskassen austrocknen lassen, die zuerst mit Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen beantwortet wurden, aber auf Dauer auch einen Griff in die Rentenfinanzierung immer wahrscheinlicher machten. Der neue Vorsitzende des Rechnungshofes, der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, hatte in einer Strategie zur Liberalisierung des gesamten Staatsapparates vorgeschlagen, die nötige Hochsetzung des Rentenalters mit neuen Bildungsangeboten und Kapitaldeckungsverfahren zu verbinden. Als Putin dann, vermutlich von langer Hand geplant, am 29. August einen Kompromiss zwischen Radikalvorschlag der Regierung und sozialorientiertem Protest vorschlug, glich dieser stark dem ursprünglichen Vorschlag Kudrins, worauf dieser ihn befürwortete und sagte: „Der Präsident hat die Argumente von Befürwortern und Gegnern der Rentenreform zusammengefasst, er hat Änderungen angebracht, um die ursprünglichen Pläne auszubalancieren“.

Innerhalb der größtenteils liberal geprägten Opposition stieß jedoch auch der Kompromissvorschlag auf breite Ablehnung. Grigory Yavlinsky, Gründer der Bürgerrechts-liberalen Partei Jabloko, sagte: “Die Wirtschaft geht den Bach runter und anstatt eine vernünftige Wirtschaftspolitik zu entwickeln […] bestehlen sie die eigene Bevölkerung.“ Dimitri Gudkow, ein ehemaliger Duma-Abgeordneter, der gegen die Annexion der Krim gestimmt hatte und dessen Kandidatur zur Bürgermeisterwahl in Moskau abgelehnt worden war, sagte, dass eine Rentenreform nötig sein möge, aber: „die Aufführung dieser Schmierenkomödie können wir ihnen einfach nicht durchgehen lassen“. Der liberale Bezirksabgeordnete Ilja Jaschin kommentierte: „Putin nimmt zwölf Millionen Menschen die Rente weg und begründet das mit der Sorge um die Stabilität des Rentensystems.“ Der bekannteste Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, von einigen Liberalen wie von Nationalisten unterstützt, wurde noch deutlicher: „Ihr werdet, liebe Freunde, nur etwas weniger bestohlen“.

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In vielen Regionen reicht auch heute schon die Rente kaum um die Lebenskosten zu decken. Weniger oder kürzer Rente zu erhalten scheint vielen deshalb katastrophal. Die Rentner, 31,4% der Gesamtbevölkerung, erhalten im Durschnitt 180 € Rente monatlich, ein Betrag, der diese in vielen Region unter die Armutsgrenze bringt. Fast Drei Viertel der russischen Bevölkerung leben trotz Rohstoffreichtum von weniger als dem deutschen Arbeitslosengeld II. Deswegen arbeiten 22,2% Prozent der Rentner offiziell über das Rentenalter hinaus – mit einer noch weit höheren Dunkelziffer. Zuletzt hatte Putin im Jahr 2005 einzelne Sozialleistungen aus Sowjetzeiten streichen lassen und dann aufgrund großen Widerstands versprochen, dass es keinen Anstieg des Renteneinstiegsalters geben würde („Nicht solange ich Präsident bin!“), da man dem Finanzierungsproblem mit Wirtschaftswachstum entgegentreten könnte. Seitdem hatte der sehr um seine Zustimmungsraten besorgte Präsident auf weitestgehend auf unpopuläre Strukturreformen verzichtet.

Für die Legitimierung der autoritär und feudal ausgehölten Präsidialdemokratie unter Wladimir Putin haben Zustimmungsraten in Umfragen einen manchmal wichtigeren Stellenwert als Wahlen, die seltener und unter kontrollierbareren Bedingungen ablaufen. Obwohl sich Putin Mühe gab zunächst Distanz zur Reform zu bekunden, um dann einen sozialverträglicheren Kompromiss ins Spiel zu bringen, ist deutlich geworden, dass es ihm und seinem Umfeld immer schwerer fällt, die mangelnde Kommunikation zwischen Staat und Bevölkerung, die dringenden Reformen von Staatsapparat, Gerichten und Wirtschaft durch taktische Maßnahmen zu überdecken. Trotz des Einsatzes des letzten Mittels gegen Kritik, der steigenden Repression, steigt mit ihr das Konfliktpotential weiter an.  

Dieser Artikel wurde zuerst am 14. September veröffentlicht und am 27.September aktualisiert. 

Julius von Freytag-Loringhoven ist Projektleiter Russland und Zentralasien der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Moskau