Ein kleiner Zug fährt ab
Europäische Verteidigungspolitiker und Militärs blicken jeden Tag nach Brüssel, der inoffiziellen Hauptstadt, nicht nur der Europäischen Union, sondern auch der NATO. Dabei sollten sie nicht vergessen, dass Brüssel auch die Hauptstadt eines – wenn auch kleinen – Mitgliedstaates beider Organisationen ist. Denn ausgerechnet hier könnte in den nächsten Wochen eine Entscheidung fallen, die für das Projekt eines gemeinsamen, europäischen Kampfflugzeuges wegweisend wäre.
Die belgische Luftwaffe benötigt Ersatz für ihre Kampfflugzeugflotte. Diese besteht im Moment aus Mehrzweckjets des Typs F-16, die ab den 1970er Jahren in einer amerikanisch-belgischen Rüstungszusammenarbeit hergestellt wurden. Von ursprünglich über 100 Maschinen sind heute noch 54 im Dienst. Diese müssen zwischen 2023 und 2028 ausgemustert und ersetzt werden.
Es stellt sich allerdings die Frage, weshalb Belgien überhaupt 34 neue Maschinen erwerben möchte. Wenn ein belgischer F-16–Kampfpilot sein Fluggerät mit doppelter Schallgeschwindigkeit vom deutschsprachigen Eupen an der östlichen Landesgrenze zur Nordseeküste bei Ostende fliegt, benötigt er dafür gerade einmal sieben Minuten. Noch dazu ist sein kleines Land zwar für innenpolitische Querelen bekannt, aber seit Jahrzehnten nur von Freunden umgeben.
Belgien, die Niederlande und Luxemburg überwachen ihre Lufträume seit 2015 gemeinsam. Da Luxemburg keine eigene Luftwaffe unterhält, stellen die Niederlande und Belgien abwechselnd Kampfflugzeuge zur Abfangjagd im Benelux-Luftraum. Angesichts der im europäischen Vergleich einzigartig engen Zusammenarbeit der niederländischen und belgischen Seestreitkräfte, sollte auch eine engere Kooperation der Luftkomponenten denkbar sein. Einem solchen Plan stehen jedoch die substanziellen Interessen der belgischen Luftfahrtindustrie entgegen. In der frankophonen Wallonie ansässige Unternehmen wie SABCA verdanken ihr Überleben der Lizenz zur Wartung- und Instandhaltung der belgischen F-16-Flotte. Ohne eigene Luftwaffe müsste Belgien damit rechnen, diesen Industriezweig zu verlieren.
Mit den neuen Jets will Belgien laut dem Verteidigungsministerium nicht nur seinen Verpflichtungen im Rahmen der Benelux-Luftraumüberwachung nachkommen. Belgische F-16 waren während der vergangenen Jahre an den alliierten Bombardements auf Stellungen des so genannten Islamischen Staates in Syrien beteiligt. Ein Einsatz wie dieser, im Rahmen von Interventionen durch die NATO oder internationalen Koalitionen, soll durch die Beschaffung neuer Flugzeuge auch in Zukunft möglich bleiben. Drittens geht es auch um den Erhalt einer eher „delikaten“ Fähigkeit. Wie im rheinland-pfälzischen Büchel sind auch in Belgien amerikanische Atomwaffen stationiert. Damit Belgien aber nuklearen Schutz für sich in Anspruch nehmen darf, muss es gemäß dem Konzept der nuklearen Teilhabe für deren Einsatz ein Trägersystem bereit halten. Dies ist bis heute die F-16.
Für die Neubeschaffung hatten sich zunächst fünf Herstellerkonsortien beworben, darunter die beiden amerikanischen Hersteller Lockheed Martin mit der F-35 und Boeing mit der F-18. Zusätzlich bieten sich die drei europäischen Hersteller Saab mit der Gripen, Dassault mit der Rafale und die Arbeitsgemeinschat aus Airbus, BAE und Leonardo mit dem Eurofighter an. Die schwedische Regierung zog das Angebot von Saab mutmaßlich deshalb zurück, weil sie einen Einsatz der Gripen mit Nuklearwaffen ausschließen wollte. Die F-18 schied aus anderen Gründen ebenfalls früh aus.
Die belgische Regierung hat nun also die Wahl zwischen drei Optionen: Ein amerikanisches (F-35), ein französisches (Rafale) oder ein deutsch-britisch-italienisches (Eurofighter) Flugzeug. Dabei spricht viel für das Angebot aus Texas.
Zum einen steht Belgien im Kreis der NATO-Mitgliedsstaaten unter Druck. Nur Luxemburg gibt relativ zu seiner Größe noch weniger Geld für seine Streitkräfte aus. Wenn die 29 Regierungschefs des nordatlantischen Paktes sich im Juli zu ihrem Gipfel in Brüssel treffen, könnte der Zorn des launigen US-Präsidenten Trump auf zahlungsunwillige Trittbrettfahrer leicht den Gastgeber treffen. Mit der Entscheidung für die F-35 könnte Premierminister Charles Michel gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er würde einen substanziellen Betrag in die Rüstung investieren und gleichzeitig seine Loyalität zum amerikanischen Bündnispartner unter Beweis stellen. Dies wiederum würde zeigen, dass das Verhalten von Präsident Trump entgegen gängiger Behauptungen die Europäer nicht zwangsläufig enger zusammenführt.
Für das US-amerikanische Kampfflugzeug sprechen auch einige Kosten-Nutzen-Argumente. Die F-35 ist voraussichtlich günstiger als die europäischen Konkurrenzsysteme. Es werden in den kommenden Jahren schätzungsweise mehrere tausend Exemplare dieses modernen Jets hergestellt und sowohl in den USA als auch in zahlreichen anderen Nationen eingesetzt. Dies wirkt sich positiv auf den Stückpreis aus. Außerdem haben sich die Niederlande schon für die Beschaffung der F-35 entschieden. Für die zukünftige Luftwaffenkooperation der beiden Staaten wäre es vorteilhaft, wenn Belgien gleichzöge.
Die relative Schwäche europäischer Waffensysteme auf dem Kampfflugzeugmarkt offenbart ein grundsätzliches Problem der europäischen Verteidigungspolitik: die Fragmentierung der Rüstungsindustrie. Die europäischen Hersteller Dassault, Airbus und Saab konnten sich bisher auf keine Zusammenarbeit einigen und konkurrieren stattdessen mit ihren Produkten auf einem kleinen europäischen Markt, der gleichzeitig weiter zu großen Teilen von den konkurrenzfähigeren amerikanischen Systemen bedient wird.
Mit den Fortschritten des vergangenen Jahres bei der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU, namentlich dem Europäischen Verteidigungsfond und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ), wollen die Europäer unter anderem genau dieses Problem angehen. Aber dazu bleibt wenig Zeit, denn Belgien ist nur einer der ersten von vielen EU-Staaten, die sehr bald über Ersatz für ihre alternden Kampfflugzeugflotten nachdenken müssen. Auch in Deutschland wird bereits über einen Nachfolger für die Jagdbomber des Typs Tornado debattiert.
Der deutsch-französische Ministerrat hat dieses Problem erkannt und in der Abschlusserklärung seiner letzten Zusammenkunft die Entwicklung eines gemeinsamen Kampfflugzeuges vereinbart. Bis Mitte 2018 soll es dazu einen Fahrplan geben. Berlin und Paris müssen hoffen, dass sie noch genügend Partner für das Projekt eines wirklich europäischen Kampfflugzeuges finden, bevor es zu spät ist. Der belgische Zug ist bis dahin möglicherweise schon abgefahren.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.