Brexit
Englische Wochen in Westminster
Das britische Unterhaus stimmt diese Woche zum dritten und letzten Mal über das von Premierministerin May ausgehandelte Austrittsabkommen ab. Fällt es erneut durch, bedeutet dies schwierige Entscheidungen für die Europäische Union und eine große Chance für die britischen Liberaldemokraten.
Wer vergangene Woche in britischen Radiosendern nach guter Unterhaltung suchte, konnte zwischen Champions League und Brexit wählen. Die Live-Übertragungen aus Westminster funktionierten wie bei Fußballspielen. Führende Parlamentarier wurden in den (Halbzeit-) Pausen zwischen Abstimmungen durch Journalisten interviewt und durch die ebenfalls in der Lobby versammelten Bürger bejubelt oder ausgebuht. Wenn Parlamentssprecher John Bercow Abstimmungsergebnisse bekannt gab, wurde ins Plenum geschaltet, um dessen theatralische Stimme live einzufangen. Die Kommentatoren ließen keine Minute ungenutzt, um die Taktiken der beiden großen Mannschaften, Tories und Labour, zu analysieren. Und seitdem elf Abgeordnete ihre jeweiligen Fraktionen verlassen haben, um eine eigene unabhängige Parlamentsgruppe zu gründen, gibt es sogar einen Transfermarkt. Die Parallelen zum Fußball enden jedoch beim Ergebnis: während der FC Liverpool seinen europäischen Gegner bezwang und ins Viertelfinale einzog, ist das britische Unterhaus beim Brexit keinen Schritt weitergekommen.
Es bleibt weiterhin unklar, ob und – wenn ja – wann und wie das Vereinigte Königreich die EU verlassen wird. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte am vergangenen Mittwoch gegen einen unkontrollierten (no deal) Brexit. Doch solange es keine Mehrheit für ein alternatives Szenario gibt, ist dieses Votum in den Worten eines hochrangigen EU-Diplomaten vergleichbar mit „einer Entscheidung der Titanic, dass der Eisberg ausweichen solle“.
Unsicherheit und Sorge wachsen
Ein Ausscheiden ihrer Vereine aus der Champions League ist für die Briten indes wesentlich weniger folgenreich als ein unkontrolliertes Ausscheiden ihres Landes aus der EU. Nach einer weiteren Woche ohne Durchbruch wachsen im Vereinigten Königreich Unsicherheit und Sorge. So berichtete die liberale schottische Parlamentskandidatin Jenny Marr dieses Wochenende bei einer Parteitagsrede, dass sie als Diabetikerin mittlerweile Schwierigkeiten habe, ausreichende Mengen an Insulin zu beziehen: „Wer garantiert mir, dass ich und tausende andere Diabetiker nach dem Brexit dieses für mich lebenswichtige Medikament bekomme?“.
Der Durchbruch wäre eine Abstimmung zu Gunsten des von Premierministerin Theresa May und der EU-Kommission ausgehandelten Austrittsabkommens gewesen. Dieses fiel, nachdem es bereits im Januar mit vernichtender Mehrheit im Unterhaus abgelehnt worden war, auch im zweiten Anlauf am Dienstag krachend durch. Die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) und die Brexit-Hardliner ihrer eigenen Partei, der Tories, halten die Auffanglösung für Nordirland, den so genannten Backstop, weiterhin für inakzeptabel. Sie befürchten, dass das Vereinigte Königreich auf ewig in einer Zollunion mit der EU gefangen bleiben könnte.
May wird ihr Abkommen dem Unterhaus diese Woche trotzdem noch ein drittes und letztes Mal vorlegen. Sie darf im dritten Anlauf auf zusätzliche Stimmen hoffen, denn unter den Brexit-Hardlinern wird darüber gestritten, ob das Vereinigte Königreich den verhassten Backstop, falls nötig, nicht doch einseitig wird kündigen können. Die Abgeordneten der DUP geraten zunehmend von nordirischen Unternehmen unter Druck, und auch bei Labour soll es Rebellen geben. Dass es im dritten und letzten Versuch für Mays deal reicht, bleibt trotzdem unwahrscheinlich.
Verschiebung des Austrittsdatums
In keinem Fall wird das Vereinigte Königreich mehr wie geplant am 29. März geordnet austreten können. Folgerichtig erteilte das Parlament der Premierministerin in einer weiteren wichtigen Abstimmung am vergangenen Donnerstag den Auftrag, bei der EU eine Verschiebung des Austrittsdatums zu beantragen. Sollte May diese Woche doch noch eine Mehrheit für ihr Abkommen bekommen, dürfte sie um eine technische Verlängerung ersuchen. Diese könnte nach britischer Auffassung bis zum 30. Juni dauern. Da sich das neue Europäische Parlament erst am 2. Juli konstituieren wird, würden die Briten dann nicht an den Europawahlen im Mai teilnehmen. Die Europäische Kommission hält dagegen eine technische Verlängerung nur bis zu den Wahlen selbst für möglich. Sie möchte ein Szenario vermeiden, in dem das Vereinigte Königreich nicht an den Europawahlen teilnimmt, anschließend aber sein Austrittsgesuch gem. Art 50 EU-Vertrag einseitig zurückzieht. Das neue Europäische Parlament wäre dann irregulär gewählt und nicht handlungsfähig. Beide Seiten müssten sich also auf die Dauer der Fristverlängerung einigen. Sollte dies gelingen, gilt es als wahrscheinlich, dass die übrigen 27 EU-Mitgliedsstaaten einer begrenzten Verlängerung zustimmen würden, um im beidseitigen Interesse größeres Chaos zu verhindern.
Eine andere Situation ergibt sich, wenn Theresa May mit ihrem Abkommen endgültig scheitert. Dann wird sie um eine wesentlich längere Verschiebung um neun, zwölf oder noch mehr Monate bitten müssen. Klar ist, dass Großbritannien und Nordirland in diesem Szenario Europaabgeordnete wählen müssten. Die britischen Parteien bereiten für diesen Fall bereits Kampagnen und Kandidatenlisten vor. Unklar ist jedoch, welche Bedingungen die Regierungen der 27 EU-Partner an ihre Zustimmung zu einer solchen Verlängerung knüpfen würden. Einzelne Mitgliedstaaten könnten versucht sein, diese Machtposition auszunutzen, um Gegenleistungen von London zu erzwingen.
Ein zweites Referendum?
Laut der Times könnte die EU sogar die Organisation eines zweiten Referendums zur Bedingung erklären. Ein solches Manöver könnte allerdings leicht nach hinten losgehen und all denen als Bestätigung dienen, die Brüssel schon immer vorgeworfen haben, sich in britische Angelegenheiten einzumischen. Ohne Bedingungen wird es aber keine Fristverlängerung geben. Das haben mehrere EU-Regierungschefs, allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron, bereits sehr deutlich formuliert. Verhandlungen über eine umfangreichere Verlängerung versprechen für Theresa May also sehr unangenehm zu werden. Sie wird daher umso mehr hoffen, ihren EU-Kollegen beim Gipfeltreffen Ende der Woche das vom Unterhaus ratifizierte Austrittsabkommen vorlegen zu können.
Bei den Liberal Democrats, die dieses Wochenende ihren Frühjahrs-Parteitag in York abhielten, hofft man das Gegenteil. Die Liberalen sind noch immer die Einzigen, die für einen Exit vom Brexit eintreten. Der Weg zu diesem Ziel führt über ein zweites Referendum – und damit auch über die erneute Ablehnung des May-Deals. Der scheidende Parteichef Vince Cable schwor die Parteimitglieder darauf ein, weiter für dieses Ziel zu kämpfen und sagte: „Der Weg ist nicht mehr weit. Ein zweites Referendum ist mittlerweile so realistisch, dass Theresa May es als Argument benutzt, um bei den Brexit-Hardlinern für ihr Abkommen zu werben“. Sollte es tatsächlich zu einem zweiten Referendum kommen, wäre dies einer der größten Erfolge in der jahrzehntelangen Geschichte der liberalen Partei.
Viele Liberale werden am 23. März auf die Straße gehen und gemeinsam mit ihren politischen und zivilgesellschaftlichen Verbündeten der people’s vote-Kampagne für ein zweites Referendum demonstrieren. Insgesamt werden mehrere Zehntausend Menschen erwartet. Ob sie das Geschehen in der Arena von Westminster werden beeinflussen können, bleibt abzuwarten.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit