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Zukunft Europas
Europas Bürgern eine Stimme geben

Belgischer Liberaler Guy Verhoftstadt wird Vorsitzender der Konferenz über die Zukunft Europas
Europa
© picture alliance/Paul Zinken/dpa

Die Weichen sind gestellt: Vergangenen Mittwoch verabschiedete das Europaparlament mit breiter Mehrheit sein Positionspapier zur Konferenz über die Zukunft Europas. Diese hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits mit ihren politischen Leitlinien im Juli 2019 angekündigt.

Nun gilt es keine Zeit zu verlieren. Als Startdatum wurde symbolisch der Europatag am 9. Mai 2020 ausgewählt. Während der letzten Sitzungswoche des vergangenen Jahres begleitete noch eine gewisse Weihnachtsstimmung die parlamentarische Arbeit in Straßburg, das vor allem für seinen Weihnachtsmarkt bekannt ist. Davon war Mitte Januar nicht mehr viel zu spüren: die Abgeordneten erwartete gleich in der ersten Sitzungswoche des neuen Jahres ein volles Programm. Auf der Agenda standen eine Entschließung zum europäischen Grünen Deal als eine der Top-Prioritäten der neuen Kommission, das Programm der am 1. Januar begonnenen kroatischen Ratspräsidentschaft, der Schutz von (Unions-)Bürgerrechten nach dem Brexit, eine Debatte über die Situation im Iran und Irak, die Rede des jordanischen Königs Abdullah II., eine Debatte zum Fortschritt der Artikel-7-Verfahren zur Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen sowie eine Abstimmung zur bevorstehenden Konferenz über die Zukunft Europas

Aufbruchsstimmung in Europa

„Zehn Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist es höchste Zeit, den europäischen Bürgern die Möglichkeit zu geben, die Zukunft der Europäischen Union, in der sie leben wollen, zu diskutieren und gemeinsam aufzubauen“, heißt es in der Entschließung der Abgeordneten zur Konferenz, die den politischen und institutionellen Stillstand in der EU aufbrechen soll. Die Konferenz zur Zukunft Europas wurde vergangenen Mittwoch mit einer breiten Mehrheit von 474 zu 149 Stimmen und 49 Enthaltungen angenommen. Ein klares Signal der Reformbereitschaft europäischer Volksvertreter.

Eine Nachjustierung der EU durch Reformen ist dringend nötig: Die veränderten Rahmenbedingungen in Europa und der Welt, neue grenzüberschreitende Herausforderungen mit europäischer Handlungsnotwendigkeit und die Häufung von Krisen der letzten Jahre hatten die EU und ihre Mitgliedstaaten wiederholt auf die Probe gestellt.

Eine zentrale Rolle bei diesem Reformprozess sollen die 512 Millionen Unionsbürger spielen, im Fachjargon als „bottom-up“-Ansatz bekannt. „Die Konferenz zur Zukunft Europas ist auch eine Konferenz zur Zukunft der nächsten Generation. Diese nächste Generation muss mitreden und aktiv mitgestalten können und hierfür erwarte ich vor allem Respekt. [...] Von diesem Haus ebenso wie von den nationalen Parlamenten“, unterstrich Svenja Hahn, Europaabgeordnete und Präsidentin der Europäischen Liberalen Jugend LYMEC in Straßburg.

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Die Forderung nach Bürgerbeteiligung ist die Antwort der europäischen Institutionen, allen voran des Europäischen Parlaments (EP) als Bürgervertretung, auf die um mehr als 8 Prozentpunkte auf 50,66% gestiegene Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen. Sie drückt einerseits das steigende Interesse der Europäer an Europapolitik aus, andererseits unterstreicht sie auch deren Erwartungsdruck nach zukunftsorientierten Antworten auf die zahlreichen Herausforderungen inner- und außerhalb der EU.

Vorläufer der Konferenz über die Zukunft Europas

Bereits Anfang der 2000er Jahre wurde ein ähnliches Projekt mit dem Ziel der Ausarbeitung einer Verfassung für die EU gestartet. So sollte neben der wirtschaftlichen auch die politische Komponente der EU vertieft werden, damals leider mit mäßigen Erfolg. Denn an diesem groß angelegten Prozess waren zwar Vertreter der Regierungen, der Europäischen Kommission sowie des Europaparlaments und der nationalen Parlamente beteiligt, allerdings nicht unmittelbar Unionsbürger. Der weitere Verlauf ist bekannt, per Referendum wurde der Verfassungsentwurf in Frankreich und den Niederlanden 2005 abgelehnt und war damit gescheitert. Europas Politiker haben heute aus diesen Fehlern gelernt: Europa wird sowohl für als auch mit seinen Bürgern gemacht.

Im Jahr 2017 hatte die Europäische Kommission mit dem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ fünf Zukunftsszenarien vorgelegt, welche anschließend sowohl bei europaweiten Bürgerdialogen diskutiert als auch von europäischen Politikern aufgegriffen wurden. Allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron mit seiner Sorbonne-Rede, welche mit zahlreichen Reformvorschlägen gespickt war.

EU-weite Bürgerforen als zentrale Diskussionsorte

Das Positionspapier des Europäischen Parlaments nimmt die Stellung europäischer Bürger in den Fokus. Es geht deutlich weiter als die vagen Schlussfolgerungen der Europäischen Staats- und Regierungschefs vom 12. Dezember 2019, welche einen „inklusiven Prozess“ und eine „umfassende Konsultation der Bürgerinnen und Bürger“ benennt und die kroatische Ratspräsidentschaft mit der Ausarbeitung eines Standpunktes beauftragt.

Im Positionspapier des EP ist die Rede ist von repräsentativen thematischen Bürgerforen in ganz Europa, begleitenden Jugendforen („Jugend-Agoras“), ergebnisoffenen Diskussionen und Online-Konsultationen, ebenso wie die Beteiligung von Vertretern aller Ebenen des europäischen Mehrebenensystems in den Konferenz-Prozess. Nachdem transnationale Listen im vergangenen Jahr keine Mehrheit im Europaparlament fanden und der Spitzenkandidaten-Prozess bei den Verhandlungen um Top-Jobs nach den Europawahlen ein jähes Ende fand, sollen diese Vorschläge ausdrücklich wieder in die Diskussionen aufgenommen werden.

„Dies ist das erste Mal, dass das Prinzip der Bürgerbeteiligung, der echten Partizipation, auf europäischer Ebene akzeptiert werden konnte“, kommentierte der französische Europaabgeordnete Pascal Durand (Renew Europe). Er weiß, wovon er spricht: Frankreich führte bereits im Jahr 2018 mit den „Consultations Citoyennes“ (Bürgerkonsultationen) ein ähnliches Experiment auf nationaler Ebene durch.

Bereits am 9. Mai 2020, dem 70-jährigen Jahrestag der Erklärung der damaligen französischen Außenministers Robert Schumans zur Schaffung der Montanunion, soll nun der zweijährige Konsultations- und Reflexionsprozess beginnen. Ein sehr ambitionierter Zeitplan, der eine gute und rasche Koordination aller Beteiligten über Landes- und Institutionsgrenzen erfordert

Belgier Verhofstadt erhält Top-Posten

Diese Rolle wird dem belgischen Liberalen Guy Verhofstadt zuteil. Der ehemalige belgische Premier, früherer Vorsitzende der ALDE-Fraktion (jetzt Renew Europe) im Europaparlament und dessen Brexit-Chefunterhändler, übernimmt fortan als Präsident de facto den prestigeträchtigen Vorsitz des zweijährigen Reformprozesses.

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Verhofstadt ist ebenfalls leitendes Mitglied der parteiübergreifenden Spinelli-Gruppe im Europaparlament, die sich für föderalistische Impulse in der Europapolitik einsetzt und ist für seine pro-europäische, reformorientierte Haltung und die mitunter direkten, vehementen Aussprachen im Straßburger Plenarsaal bekannt. Er erhält damit – mit einiger Verspätung im Nachgang der Europawahlen 2019 – doch noch einen der erhofften europäischen Top-Posten.

Diese Option war bereits von Emmanuel Macron, dem Verhofstadt persönlich wie inhaltlich nahesteht, im vergangenen Jahr ins Gespräch gebracht worden; ihre Umsetzung erforderte allerdings noch einige Verhandlungen unter den Vorsitzenden der Fraktionen im Europäischen Parlament. Verhofstadt zur Seite stehen werden Manfred Weber, ehemaliger EVP-Spitzenkandidat, sowie ein noch offener Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion. Nachdem mit Ratspräsident Charles Michel sowie Justizkommissar Didier Reynders bereits zwei frankophone belgische Liberale des Mouvement Réformateur zentrale Funktionen innehatten, sind die flämischsprachigen Liberalen von Open VlD mit Guy Verhofstadt auch nicht leer ausgegangen. Europapolitik ist eben immer auch nationale und regionale Politik, und das ganz besonders in Belgien.

 

Carmen Descamps ist European Affairs Managerin im Brüsseler Regionalbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.