Krieg in Europa
Flucht aus der Ukraine: Warum Deutschland einen Masterplan braucht
Zwischen dem 24. Februar und dem 28. März 2022 kamen in Deutschland 280.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge an. Ganz präzise sind diese Zahlen aber nicht. Ukrainische Staatsbürger können ohne Visum in die Europäische Union einreisen und sich in EU-Mitgliedstaaten des Schengen-Raums frei bewegen. Personen, die aufgrund der Richtlinie der EU über den vorübergehenden Schutz einreisen durften, wurden nicht systematisch registriert. Auch Bundesinnenministerin Faeser (SPD) spricht sich gegen eine solche Registrierung aus, mit Verweis auf deren Rechte, sich frei bewegen zu dürfen. So bleibt es naturgemäß schwierig zu beurteilen, wie viele ukrainische Geflüchtete auf die Bundesländer verteilt sind.
Seit Mitte März werden Geflüchtete, die in Berlin und Hamburg ankommen, zunehmend auf andere Länder verteilt. Doch es herrscht Chaos. Es ist für eine einigermaßen gerechte Verteilung „unabdingbar“, dass der Bund ein ordnungsgemäßes Verteilungsverfahren etabliert. Die Probleme sind bekannt: Aufgrund der hohen Anzahl sind viele Erstaufnahmeeinrichtungen fast komplett belegt. In Hessen und Niedersachsen zu etwa 90 Prozent, in Rheinland-Pfalz zu 75 Prozent. Die hohe Belastung veranlasste einige Bundesländer dazu, Notunterkünfte zu errichten. Fast alle Bundesländer bauen derzeit ihre Aufnahmekapazitäten aus. Rheinland-Pfalz und Sachsen verdoppelten sie in wenigen Tagen. Es verwundert daher etwas, dass München vor Kurzem einige Unterkünfte wieder schloss.
Viele Deutsche packen an und helfen. Doch die staatliche Überforderung an einigen Ankunftsorten kann durch die Hilfsbereitschaft von Einzelpersonen und Familien, die ihre Wohnung zur Verfügung stellen, nicht ausgeglichen werden. Ganz zu schweigen von der drohenden Überlastung von Auslandsämtern und sozialer Infrastruktur.
Wo bleibt die gesamtstaatliche Kraftanstrengung? Ein Masterplan, den etwa auch Joachim Stamp (FDP), der stellvertretende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, fordert, tut Not. Dazu gehört die Bereitstellung von einer Million Unterkunftsplätzen für ukrainische Flüchtlinge in Deutschland. Die logistische Verzahnung von Bund, Land und Kommunen muss schnell erfolgen. Auch in anderen Bereichen ist diese Verzahnung notwendig. Ob Kita- oder Schulanmeldung, Meldung beim Arbeitsamt, Anmeldung zu einem Sprachkurs oder das Aufsuchen ärztlicher bzw. psychologischer Hilfe. Die Schutzsuchenden aus der Ukraine sind in Deutschland leistungsberechtigt; danach ist die notwendige medizinische Versorgung gewährleistet. Doch die meisten staatlichen Leistungen laufen dezentral. Das ist oftmals schon für Deutsche überfordernd. Mit einer Sprachbarriere ist es fast unmöglich, sich allein zurechtzufinden. Deshalb braucht es zentrale Anlaufpunkte, die alle Ebenen zusammenbringen und leicht zugänglich sind.
Der österreichische Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus fordert einen erleichterten Zugang für Geflüchtete zum Arbeitsmarkt und Bildungswesen. Deutschland kann sich ein Beispiel an Österreich nehmen. Wie der österreichische Innenminister Gerhard Karner und Arbeitsminister Martin Kocher letzte Woche verkündeten, erhalten ukrainische Flüchtlinge seit Montag dort die sogenannte „blaue Karte“. Nach dem Erhalt der Karte und einer anschließenden Beschäftigungsbewilligung steht den Geflüchteten der österreichische Arbeitsmarkt offen. Da die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes derzeit groß ist, sei es durchaus möglich, einen Teil der Vertriebenen schnell zu integrieren. Durch die Karte erhalten die Menschen außerdem Zugang zu Krankenversicherung und Bildungsangeboten. Um eine bessere Verständigung zu gewährleisten, wird zusätzlich eine Hotline in ukrainischer Sprache eingerichtet.
Die vertriebenen Ukrainer sollten schnellstmöglich in Deutschland ihrem erlernten Beruf nachgehen können. Das ist wichtig für sie selbst, da dadurch die Chancen auf eine erfolgreiche Integration steigen. Die Ankündigung von Arbeitsminister Heil, die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen zu beschleunigen, muss schnell Realität werden. Deutschland ist in diesem Bereich schon lange zu träge und bürokratisch.
Genauso wichtig wie konkrete Leistungen sind Vernetzungsangebote in Deutschland: Treffpunkte, bei denen sich die Ukrainerinnen und Ukrainer mit anderen austauschen können, um sich gegenseitig zu unterstützen und Halt zu finden. Die Geflüchteten aus der Ukraine haben ihre Heimat verloren. Sie haben Traumata erlebt, die nur noch ganz wenige Menschen nachempfinden können.
Der Föderalismus darf bei allen Vorteilen nicht zur Stolperfalle für die ukrainischen Flüchtlinge werden. Die Menschen brauchen keine unverständlichen und abgehobenen Debatten, sondern unbürokratische Hilfe nah an den Menschen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Justizministerin a. D. und stellvertretenden Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Dieser Beitrag ist erstmalig am 7. April 2022 in der Frankfurter Rundschau erschienen.