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Gibraltar: Der vergessene Sonderfall

Welche Konsequenzen hat der Brexit für die kleine Halbinsel?
Gibraltar
Wie geht es weiter mit dem einzigen britischen Überseegebiet innerhalb der EU? © CC0 Pixabay.com/ joernhb

Seit Jahrhunderten ist die kleine Halbinsel im Süden der iberischen Halbinsel umkämpft. Angesichts der drohenden Konsequenzen des Brexit kämpfen ihre Bewohner jetzt selbst um Aufmerksamkeit und für den Erhalt ihres Wohlstandes und ihrer Freiheit.

Gibraltar ist ein Sonderfall – historisch, geografisch und politisch. Seit dem Friedensvertrag von Utrecht im Jahr 1713 ist die Halbinsel an der gleichnamigen Meerenge zwischen Europa und Afrika eine britische Enklave in der südspanischen Region Andalusien. Ihre Fläche (6,5 km²) ist vergleichbar mit dem deutschen Nordseefelsen Helgoland und auf ihr leben etwa doppelt so viele Menschen (ca. 32.500) wie auf Sylt. Sie ist nicht Teil des Vereinigten Königreichs, untersteht aber als eines von 14 britischen Überseegebieten dessen Souveränität. Als einziges dieser Überseegebiete ist sie außerdem Teil der Europäischen Union.

Der stellvertretende Regierungschef und Vorsitzende der liberalen Partei von Gibraltar, Dr. Joseph Garcia, erklärt diese Zusammenhänge bei seinem Besuch in Brüssel mit viel Geduld. Er ist gewohnt, dass sein Publikum nichts oder wenig über seine Heimat weiß. Die wichtigste Botschaft an seine Brüsseler Zuhörer lautet: «Wir sind überzeugte Europäer». Tatsächlich verkörpern die aus allen Ländern Europas stammenden Einwohner Gibraltars das EU-Motto «Einheit in Vielfalt» und sind äußerst eng mit der spanischen Region Andalusien verflochten. 13.000 Pendler überqueren jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit die Landgrenze zwischen Spanien und Gibraltar und über 10 Millionen Touristen bereisen das Überseegebiet auf demselben Weg. Dr. Garcia hebt außerdem hervor, dass Gibraltar als zweitgrößter Arbeitgeber der Region gilt und so 25% der andalusischen Wirtschaftsleistung erzeugt.

Im Juni 2016 durften auch die Einwohner Gibraltars am Brexit-Referendum teilnehmen. Sie stimmten mit 96% für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union – der höchste Zustimmungswert aller 382 Wahlkreise, weit höher noch als in der City of London oder in Schottland. Das Gesamtergebnis des Referendums und die Entscheidung der britischen Regierung, die Europäische Union zu verlassen, versetzte den Menschen deshalb einen tiefen Schock. Dabei befürchten sie, anders als ihre Mitbürger in Nordirland, nicht die Errichtung einer «harten Grenze».

Gibraltar ist bisher weder Mitglied der Zollunion noch des Schengener Abkommens. Eine harte Grenze im Sinne von Grenzkontrollen für Personen und Güter hat es deshalb schon immer gegeben. Der Güterverkehr spielt generell kaum eine Rolle, da die Menschen auf der Halbinsel vor allem vom Tourismus, Finanzdienstleistungen und Onlinespielen leben. Was für Gibraltar auf dem Spiel steht, ist der ungehinderte Personenverkehr. Bürger anderer europäischer Staaten, die in Gibraltar leben, Touristen, die aus Spanien einreisen und Pendler, die in Gibraltar arbeiten, sollen die Landgrenze ohne Zeitverlust und Behinderungen jederzeit überqueren können.

Joseph Garcia

Deputy Chief Minister Joseph Garcia auf einer FNF-Veranstaltung in Brüssel

© FNF

Grundsätzlich ist dieser Personenverkehr bisher trotz vereinzelter Kontrollen ohne Behinderungen möglich. Die Einreisegesetze des Vereingten Königreichs werden dadurch auch nicht berührt, weil es bei Flügen zwischen Gibraltar als Überseegebiet und Großbritannien noch eine zusätzliche Grenzkontrolle gibt. In der Vergangenheit wurde der Grenzverkehr jedoch immer wieder durch intensivierte Grenzkontrollen Spaniens verzögert und dadurch behindert. Dr. Garcia wirft Spanien vor, mit diesen Behinderungen seine Besitzansprüche auf die Halbinsel von Gibraltar unterstreichen zu wollen. 2013 eskalierte ein Streit zwischen Gibraltar und Spanien so weit, dass der ehemalige britische Premierminister David Cameron den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Manuel Barroso darum bitten musste, die spanischen Grenzkontrollen durch EU-Beobachter auf Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Nach einem wahrscheinlichen Brexit wäre Spanien gegenüber Brüssel jedoch nicht mehr verpflichtet, für einen reibungslosen Personenverkehr zu sorgen.

Die spanische Regierung hat im Zuge des Brexit-Prozesses ihren Anspruch auf die Halbinsel Gibraltar bereits erneuert. Vor diesem Hintergrund ärgert es die Regierung Gibraltars besonders, dass der Europäische Rat in seinen Brexit-Verhandlungsrichtlinien festgelegt hat, dass jede Einigung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich mit Bezug auf Gibraltar der Zustimmung Spaniens bedarf. Joseph Garcia gibt zu Bedenken, dass Spanien auf diese Weise über ein Zusatz-Veto verfügt und somit einen Brexit zu den für Gibraltar ungünstigsten Bedignungen erzwingen könnte. Die Richtlinien des Rates seien ein «diskriminierendes Verhalten gegen die proeuropäische Bevölkerung Gibraltars».

Die unterschiedlichen Interessen Gibraltars und Spaniens werden schon an der Infrastruktur auf beiden Seiten der Grenze deutlich. Fährt man als Autofahrer aus Gibraltar nach Andalusien, nähert man sich dem einzigen Grenzübergang auf der sechsspurrigen Winston Churchill Avenue. Dieselbe Straße verengt sich dann nördlich der Grenze auf nur eine Spur.

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Welche Ziele verfolgt Gibraltar also in den Brexit-Verhandlungen? Die im Zusammenhang mit der Nordirland-Frage disktuierten Modelle eines Freihandelsabkommens oder einer Zollunion (CETA oder Norwegen als Vorbild) spielen für Gibraltar keine große Rolle. Die Regierung der Halbinsel legt vor allem Wert darauf, die Europäische Union zu denselben Bedingungen zu verlassen wie das Vereinigte Königreich. Sie hofft dabei auf eine Einigung mit Spanien, welche die Grundlage für einen reibungslosen Personenverkehr bilden würde.

Am allerliebsten wäre es Joseph Garcia, wenn der Brexit gar nicht erst Realität werden und sein Gebiet sich für die Mitgliedschaft im Schengen-Raum bewerben könnte. Doch obwohl seine Landsleute auf der Halbinsel so überwältigend für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, wagt er davon nicht zu träumen.

Sebastian Vagt ist European Affairs Manager der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.