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Krieg in Europa
Krieg in Europa: Die russische Strafakte

Bucha

Massive Zerstörungen in der Stadt Bucha, nachdem diese am 4. April 2022 von der russischen Armee in der Ukraine befreit wurde

© picture alliance / AA | Metin Aktas

Die Bilder aus Butscha und anderen ukrainischen Orten haben die schrecklichsten Mutmaßungen bestätigt. In der Ukraine wurden von russischer Seite massenhaft Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Die politischen Delegationen, die aus den von russischen Streitkräften verlassenen Ortschaften zurückkehren, bestätigen den Eindruck. Damit steht fest, dass das Blut zahlloser Zivilisten an russischen Händen klebt. 

Schon vor den Bildern aus Butscha hat die internationale Staatengemeinschaft den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aufs Schärfste verurteilt. Am 2. März 2022 hat die UN-Generalversammlung mit einer überragenden Dreiviertel-Mehrheit eine Resolution beschlossen, mit der die russische Aggression gegen die Ukraine als Verstoß gegen das Gewaltverbot geächtet und Russland zur sofortigen Einstellung aller Gewalthandlungen aufgefordert wurde. 

Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag als ein Organ der UN hat bereits einen Beschluss zur Situation in der Ukraine gefasst. Die Ukraine hatte um die Feststellung gebeten, dass von ihrer Seite kein Völkermord in der Ostukraine begangen wurde, wie von Russland als Kriegsgrund angeführt. Zusätzlich beantragte die Ukraine vorläufige Schutzmaßnahmen. Am 16. März 2022 hat der IGH daraufhin als vorläufige Maßnahme die sofortige Einstellung aller militärischen Aktivitäten durch Russland angeordnet. 

Vielleicht mag all dies Russland noch nicht unter Zugzwang setzen. Russland kann sich wahrscheinlich ohne völkerrechtliche Konsequenzen zu fürchten über die beiden Beschlüsse hinwegsetzen. Die Verurteilung des russischen Angriffskriegs durch andere Staaten ist aber nur eine der völkerrechtlichen Dimensionen, die Russland zu erwarten hat. Das Völkerrecht hat einen sehr langen Atem und noch ein Paar mehr Asse im Ärmel. 

Hier kommt das Völkerstrafrecht ins Spiel, bei dem es nicht mehr um staatliches Handeln, sondern um individuelle Verantwortlichkeiten geht. In diese Kategorie fällt das am 2. März 2022 eröffnete Ermittlungsverfahren beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Der Chefankläger Karim Khan hatte bereits am 28. Februar 2022 auf eigenes Betreiben Vorermittlungen eingeleitet. Diese konnten durch die kollektive Überweisung des Sachverhalts von 41 Vertragsstaaten beschleunigt und direkt in ein förmliches Ermittlungsverfahren überführt werden.

Die gerichtliche Zuständigkeit des IStGH ist kein einfaches Feld, denn weder die Ukraine noch Russland sind Vertragsstaaten des IStGH. Allerdings hatte sich die Ukraine bereits 2014 im Zusammenhang mit der Annexion der Krim der Gerichtsbarkeit des IStGH unterworfen. In einer späteren Erklärung hat die Ukraine die Erlaubnis, Ermittlungen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu führen, die seit Ende 2013 in der Ukraine begangen wurden, auf unbestimmte Zeit verlängert. Auf dieser Grundlage konnte der Chefankläger Karim Khan nun seine Ermittlungen aufnehmen.

In Erklärungen vom 11. März und vom 16. März 2022 weist Khan darauf hin, dass es nun darum gehen muss, umfassende Beweise zu sammeln. Dies ist zum einen nötig, um aufgrund der Beweise für belastende Tatsachen irgendwann Anklage gegen konkrete Täter erheben und Haftbefehle ausstellen zu können. Zum anderen ist es wichtig, um zu verhindern, dass Beweise vernichtet oder übersehen werden. Ein gutes Beispiel sind die vielen Geflüchteten aus der Ukraine, die nun überall in der EU ankommen und sich verteilen. Sie könnten bei ihren ersten Amtsgängen in der EU nun befragt werden, ob sie selbst Opfer oder Zeugen von Verbrechen geworden sind und ob sie Beweismaterial wie Videos, Fotos oder Dokumente bei sich haben. Im besten Fall können solche Hinweise dann zur Identifizierung konkreter Opfer und Tatverdächtiger führen.

Eine große Anzahl eindeutig ziviler Opfer konnte beispielsweise für Butscha bereits durch die Open Source Intelligence Community oder journalistische Arbeit bestätigt werden. Es gibt Bilder und Berichte von gezielten Angriffen auf nicht-militärische Ziele, gezielten Tötungen von Zivilisten, die sich zuvor nicht an kriegerischen Handlungen beteiligt hatten, und Vertreibung, Folter oder Gefangennahme der Zivilbevölkerung. Bisher unbestätigt sind erste Berichte über den Einsatz verbotener chemischer Waffen.

Die von Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beim Generalbundesanwalt (GBA) in Karlsruhe gestellte Strafanzeige gegen Präsident Putin und weitere russische Staatsbürger sowie konkret benannte militärische Einheiten trägt zur Beweissammlung bei. Namentlich benannt werden neben Putin die Mitglieder des russischen Sicherheitsrats und weitere Angehörige der politischen Führungsriege. Mehrere Belege für Sachverhalte, die als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden können, werden mit angeführt. 

Der GBA ist in Deutschland für Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) zuständig. Das VStGB hat international geächtete Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in deutsches Recht überführt. Nach dem im VStGB verankerten sogenannten Weltrechtsprinzip kann der GBA auch in Deutschland Strafverfahren zu Taten einleiten, die nicht in Deutschland begangen wurden oder sonst wie mit Deutschland in Zusammenhang stehen. Vorbilder gab es in den vergangenen Jahren einige. Der GBA hat in jüngster Vergangenheit erfolgreich Verfahren gegen einzelne Täter aus Syrien und Afghanistan geführt.

Um in alle Richtungen zu ermitteln und das Verfahren des IStGH zu unterstützen, hat der GBA in Deutschland ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren eingeleitet. Hierbei werden breit angelegt Beweise gesammelt. Ob die Ermittlungen am Ende in Verfahren in Deutschland münden, bleibt abzuwarten. Es ist genauso gut möglich, dass die Ermittlungsergebnisse aus Deutschland letztlich Verfahren vor dem IStGH zugutekommen. Bundesjustizminister Buschmann machte in Statements deutlich, dass bei den Ermittlungen schon jetzt eng mit den europäischen Partnern und dem IStGH zusammengearbeitet wird. Auch Kommissionspräsidentin von der Leyen hat angekündigt, dass ein EU-Ermittlungsteam aus der EU-Justizbehörde Eurojust und der Strafverfolgungsbehörde Europol in die Ukraine entsendet werden soll. 

Ein anderes Thema ist die aktuell noch bestehende Immunität einiger möglicher Täter. Es mag während der Zeit, in der Putin oder andere Personen der russischen Führungsriege ein politisches Amt bekleiden, noch Immunität gegen die Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen bestehen. Es besteht aber keine umfassende funktionale Immunität für Handlungen, die während der Zeit in einem staatlichen Amt begangen werden. Einfache Angehörige der Streitkräfte genießen, soweit ersichtlich, auch jetzt schon keine Immunität.

Das Signal der konzertierten Ermittlungen ist eindeutig. Russische Kriegsverbrecher - ob Präsident, Politiker, Kommandeure oder Soldaten - sollen sich nirgendwo auf der Welt sicher fühlen. Sobald die russischen Strafakten dick genug sind, wird es viele Strafverfahren geben. Die Weltgemeinschaft wird die russischen Gräueltaten nicht ungesühnt lassen.