Liberale Leitlinien (II): Lebenschancen
Dies ist der zweite Beitrag zu liberalen Leitlinien 2018. Den ersten Beitrag mit dem Titel " Die offene Gesellschaft" finden Sie hier.
Im Jahr 1979 veröffentlichte der deutsch-britische Soziologe und liberale Politiker Ralf Dahrendorf ein kleines Buch mit dem unscheinbaren Titel "Lebenschancen". Er war damals Direktor der London School of Economics und mittendrin in der laufenden Diskussion über die Gründe für die Krise der Wirtschaft und die Spaltung der Gesellschaft in seiner neuen Heimat, dem Vereinigten Königreich. Seine Antwort auf die britische Krise von damals ist von großem Gewicht für die Herausforderungen für Deutschland und Europa heute - so sieht es jedenfalls unser stellv. Vorstandsvorsitzender Professor Karl-Heinz Paqué.
Es vergeht kein Tag, an dem nicht über die zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft öffentlich geklagt wird. Diese Spaltung hat viele Dimensionen: reich vs. arm, städtisch vs. ländlich, vernetzt vs. isoliert, mobil vs. immobil, gut vs. schlecht gebildet, hoch vs. niedrig qualifiziert - die Liste könnte unendlich verlängert werden. Manches davon wird dramatisiert dargestellt, denn schlechte Nachrichten verkaufen sich in den Medien besser als gute. Aber dass es einen allgegenwärtigen Trend zum Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Gruppen gibt, und zwar fast in allen westlichen Ländern mit demokratischer und marktwirtschaftlicher Ordnung, das ist kaum zu bestreiten. Zumindest sind frühere egalitäre Trends, wie sie in der großen Zeit der Industriegesellschaft zu beobachten waren, nun schon seit Jahrzehnten zum Stillstand gekommen und haben sich zum Teil umgekehrt.
Woran liegt's? Zunächst einmal an tiefen "tektonischen" Verschiebungen des Strukturwandels, die sich nicht einfach stoppen oder beseitigen lassen: technologisches Wachstum der Digitalisierung, Globalisierung von Handel und Kapitalverkehr, Aufstieg der Dienstleistungen und Schrumpfung der Industrie - alles natürliche Begleiterscheinungen einer Veränderung, die der Menschheit als Ganzes nützt und nicht unterbunden werden darf. Wir leben eben heute global in einer "offenen Gesellschaft" im Sinne Karl Poppers, und dies ist gut so.
Aufgabe der Politik muss es sein, die Menschen in diesem Prozess positiv zu begleiten. Und hier kommt Dahrendorfs Leitgedanke von 1979 ins Spiel: Ziel muss es sein, möglichst vielen Menschen möglichst große Lebenschancen zu bieten, gerade auch in einer Welt, die sich verändert. Es geht nicht darum, die Menschen in ihrer Leistungsfähigkeit gleich zu machen - dies ist unmöglich und jeder Versuch, es zu tun, endet im Ergebnis totalitär. Es geht vielmehr darum, jedem aus seiner Situation heraus die größtmöglichen Lebenschancen zu bieten: als Startgerechtigkeit.
Das ist zunächst und vor allem eine Frage der Bildung. Bestmögliches Fördern und motivationsgerechtes Fordern auf allen Ebenen ist geboten - von der Grundschule bis zur Universität und der beruflichen sowie technischen Aus- und Fortbildung, unabhängig von Herkunft und Elternhaus. Alle verdienen bestmögliche Unterstützung, vom Lernbehinderten bis zum Hochbegabten. Pädagogen und Politiker mögen im Einzelnen darüber streiten, wie dies zu erreichen ist, aber vieles spricht dafür, dass es hoher staatlicher Investionen, zahlreicher qualifizierter und motivierter Lehrkräfte sowie einer beachtlichen Differenzierung der Bildungsangebote bedarf, um das Ziel zu erreichen - und zwar vor Ort und nicht zwischen Ländern, wie es der reformbedürftige Bildungsföderalismus tut. Und wenig spricht dafür, dass wir hierzulande einen solchen Zustand erreicht haben, wie etwa die Situation im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen in dramatischer Weise zeigt.
Aber es geht um noch mehr als Bildung und Fortbildung. Ralf Dahrendorf machte dies 1979 deutlich, indem er den Lebenschancen als "Optionen" die Bedeutung der "Ligaturen" gegenüber stellte. In etwas akademischer Sprache bezeichnete er damit all jene sozialen Bindungen, die Menschen ein Stück weit emotional und gesellschaftlich tragen, damit sie die Fähigkeit und Kraft aufbringen, die Veränderungen positiv aufzunehmen und zu verarbeiten. Diese Bindungen können aus einer Vielzahl von Einflüssen bestehen: ein liebevolles Elternhaus, eine stabile Partnerschaft, ein kommunales Gemeinschaftsgefühl, das Vereinsleben, die Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, etc, etc.
Es ist offenkundig, dass die Erosion gerade dieser Bindungen, die wir in den letzten Jahrzehnten zweifellos beobachten, den Prozess des Wandels politisch enorm erschwert. Es kann deshalb nicht überraschen, dass der Widerstand gegen die Veränderung dort besonders stark zu beobachten ist, wo der Wandel abrupt einbricht oder vormals intakte Bindungsgeflechte besonders bedroht sind. So konnte bei der letzten Bundestagswahl 2017 die rechtspopulistische AfD besonders starke Stimmenzuwächse im Osten und im Südosten Deutschlands einfahren - im Osten, weil dort nach dem Mauerfall der wirtschaftliche Strukturwandel in Rekordgeschwindigkeit durchfegte, im Südosten, weil dort die Menschen in eher ländlich geprägten Sozialstrukturen - trotz wirtschaftlicher Erfolge - in Skepsis gegenüber dem Wandel verharren, weil sie die Bedrohung der Tradition durch die Veränderung wohl besonders stark wahrnehmen. Sie haben eben viel zu verlieren.
Wohlgemerkt: Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Herausforderungen. Man mag darüber nachdenken, wie neben einer radikalen Verbesserung der Bildung auch das Gefühl für Geborgenheit und Heimat gestärkt werden kann - und derartige Vorschläge, wie sie jüngst vom grünen Umweltminister Schleswig-Holsteins Robert Habeck kamen, sollten nicht gleich von Parteifreunden (und anderen) als reaktionäre Vergangenheitsduselei abgetan werden. Man mag auch darüber nachdenken, wie man die gemeinnützigen Träger des Gemeinschaftsgefühls stärker unterstützt, auch familien- und steuerpolitisch. Gleichwohl sollten wir uns keine Illusionen machen: Das Grundproblem wird uns begleiten, solange es den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel gibt - und mit ihm die Veränderung individueller Lebensumstände durch Digitalisierung und Globalisierung.
Fazit: Ralf Dahrendorfs Maximierung der "Lebenschancen" bleibt hochaktuell. Mehr als das: Sie ist zeitgemäßer denn je, und zwar sowohl in den "Optionen", die Dahrendorf klar erkennt und als Liberaler nachdrücklich befürwortet, als auch in den "Ligaturen", die er als Leitplanken für nötig hält. Ein liberales Fortschrittsprogramm wird auf beides nicht verzichten dürfen. Die Diskussion kann beginnen, möglichst bald: im neuen Jahr 2018.