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Wannseekonferenz
Massenmord mit Frühstück

Vor 80 Jahren trafen sich deutsche Spitzenbeamte, um die Ermordung des europäischen Judentums zu koordinieren.
Haus der Wannsee-Konferenz
Vor dem Haus der Wannsee-Konferenz liegt Schnee. Am 20. Januar 1942 trafen sich hohe NSDAP- und SS-Funktionäre in der Villa am Berliner Wannsee. © picture alliance/dpa | Annette Riedl

Das Protokoll der sogenannten Wannseekonferenz ist eines der furchtbarsten Schriftstücke der deutschen Geschichte. Es dokumentiert eine „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ am 20. Januar 1942, zu der Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, eingeladen hatte. Gemeinsam mit vierzehn weiteren deutschen Spitzenbeamten beriet Heydrich im mondänen Gästehaus der SS am Berliner Wannsee „über mit der Endlösung der Judenfrage zusammenhängende Fragen“. Wie das fünfzehnseitige Besprechungsprotokoll festgehalten hat, ging es also, kaum verklausuliert, um die weitere Koordination des nationalsozialistischen Massenmords an den europäischen Juden. Der 20. Januar ist daher ein wichtiger Gedenktag, der vor Augen führt, „wozu Menschen fähig sind“. Er ist zudem ein Anlass, über Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus nachzudenken, über die Bedeutung von Menschenwürde und Freiheitsrechten, und über Verantwortung für vergangene Verbrechen.

Die Wannsee-Konferenz und die Schoa

Es ist ein immer noch weit verbreiteter Irrtum, dass während der Wannsee-Konferenz die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen worden wäre. Bereits 1992 hatte der Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel darauf hingewiesen, dass diese Annahme schon allein deshalb unzutreffend ist, weil die Schoa zu diesem Zeitpunkt bereits „in vollem Gange“ war. Am 29. und 30. September 1941 hatte beispielsweise das Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C der SS mithilfe von deutschen Polizisten, Wehrmachtsangehörigen und ukrainischen Milizionären 33.771 jüdische Männer, Frauen und Kinder in Babyn Jar bei Kiew erschossen. Obwohl zu dieser Zeit Erschießungen das Mittel der Wahl darstellten, wurden Juden zudem ab Dezember 1941 im Vernichtungslager Kulmhof [Chełmno] vergast. Wie sich unter anderem aus den Ereignismeldungen der Einsatzgruppen rekonstruieren lässt, lag die Zahl der ermordeten Juden bis Ende 1941 bereits bei ungefähr 500.000. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch das Standardwerk von H.G. Adler, Der verwaltete Mensch von 1974, in dem dieser darauf hinweist, dass die „ersten beiden Schübe der systematischen Deportation […] vor der Wannseekonferenz angeordnet und praktisch auch vor ihr beendet“ wurden.

Die Wannseekonferenz lässt sich daher eher als „Echo auf die gefallene Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden“ lesen. Das „ob“ war bereits zuvor geklärt worden, stattdessen ging es, wie es im Protokoll heißt, um die „Parallelisierung der Linienführung“, konkret also vor allem um die Verteilung der Zuständigkeiten und die weitere Durchführung des Massenmords. Die „Federführung bei der bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage“ sollte dabei „ohne Rücksicht auf geographische Grenzen zentral beim Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei“, Heinrich Himmler, liegen. Wie der Heydrich-Biograph Robert Gerwarth betont, handelte es sich bei der Konferenz also auch um einen Versuch Heydrichs, seinen eigenen Kompetenzbereich und den seines Chefs abzustecken und zu vergrößern.

Auch andere Aspekte der Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums notiert das Protokoll mit bedrückender Nüchternheit. So sei es bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das Ziel gewesen, „auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern“, in dem zum Beispiel die Ausreise erzwungen worden sei. Mit „entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer“, so heißt es auf Seite 5, habe sich dann aber eine „weitere Lösungsmöglichkeit“ eröffnet, nämlich die „Evakuierung der Juden nach dem Osten.“ Dass dies lediglich ein Code für die massenweise Ermordung war, ergibt sich nicht nur aus dem weiteren Verlauf der Schoa, sondern zum Teil sogar aus dem Dokument selbst. So wird mit grausamem Zynismus festgestellt, dass durch Zwangsarbeit bereits „zweifellos ein Großteil [der Juden] durch natürliche Verminderung ausfallen wird“ und das der „allfällig verbleibende Restbestand […] entsprechend behandelt werden“ müsse.

Warum Heydrich nicht nur Offiziere der SS, sondern unter anderem auch Vertreter aus dem Auswärtigen Amt, des Reichsjustizministeriums und des Reichsministeriums des Innern eingeladen hatte, wird in der zweiten Hälfte des Protokolls deutlich. Hier geht es um die Priorisierung, die innereuropäische Abstimmung und Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts. Die anwesenden Beamten – größtenteils promovierte Juristen – befassen sich dabei unter anderem mit der Frage, wie mit „Mischlingen 2. Grades“ umzugehen sei und ob statt der „Evakuation“ nicht auch Zwangssterilisationen infrage kämen. Grundlage für die „Endlösungsvorhaben“, so das Protokoll, seien dabei die Nürnberger Gesetze, die bereits 1935 verkündet waren.

Die Bedeutung der Wannseekonferenz

Spätestens hier zeigt sich, dass die Wannseekonferenz kein isoliertes Ereignis war, sondern sich nur aus der Gesamtgeschichte des Nationalsozialismus heraus verstehen lässt. Die Nürnberger Gesetze, auf die sich die Beamten bezogen, waren ihrerseits eine Verrechtlichung der NS-Rassenideologie, wie sie sich bereits Anfang der 1920er-Jahre herausgebildet hatte. Im sogenannten „Gründungsprogramm der NSDAP“ vom 24. Februar 1920 heißt es ausdrücklich, dass die deutsche Staatsbürgerschaft an rassische Kriterien zu binden sei und nur „Volksgenossen“ offen stünde. Ein solcher könne aber nur sein, „wer deutschen Blutes ist. […] Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ Auch einer der Teilnehmer der Wannseekonferenz, der spätere Präsident des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs Roland Freisler, hatte bereits 1924 in einer Rede die „Ausmerzung des jüdischen Wesens mit den schärfsten Maßnahmen“ gefordert.

Was diese Weltsicht für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeutet, war auch manchen Zeitgenossen schon klar. Der Bundesvorstand des republikanischen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, das von den Sozialdemokraten, aber auch der liberalen Deutschen Demokratischen Partei und dem Zentrum getragen wurde, veröffentlichte 1929 beispielsweise eine Broschüre zum „wahren Gesicht des Nationalsozialismus“, in der mit diesem Verständnis von Staatsbürgerschaft hart ins Gericht gegangen wurde: „Nach dem nationalsozialistischen Programm ist nicht, wie in allen Kulturstaaten und selbstverständlich auch in Deutschland, jeder Staatsbürger der im Lande als Deutscher geboren ist oder die Staatsangehörigkeit durch Aufnahme erlangt hat“, schrieben die Autoren. „Bei den Juden als angeblich ‚Fremdrassigen‘ macht man die den Anfang mit der Entrechtung“, so das Reichsbanner, „dieser Gedankengang hört folgerichtig bei der Entrechtung aller auf, die nicht auf das nationalsozialistische Programm schwören.“

Zweifelsohne waren die Nationalsozialisten – wie beispielsweise die berüchtigte Posener Rede von Heinrich Himmler zeigt – darum bemüht, die Details des Massenmords versteckt zu halten und bereits im Frühjahr 1942 wurde mit der „Aktion 1005“ begonnen, um die Spuren des Verbrechens zu vernichten. Und sicherlich lässt sich die Shoa als Ergebnis verschiedenster Prozesse der „kumulativen Radikalisierung“ (Hans Mommsen) verstehen, die 1924 oder 1929 noch nicht absehbar waren und deren Entscheidungsprozesse äußert komplex waren. Dennoch liegt die Bedeutung der Wannsee-Konferenz auch darin, dass der bürokratisch verwaltete Massenmord an den europäischen Juden nur möglich war, weil die Täter auf einen breit verankerten Antisemitismus und die Mitwirkung oder zumindest das Stillschweigen eines wesentlichen Teils der deutschen Bevölkerung bauen konnten.

Das Protokoll der Wannseekonferenz war zwar eine „Geheime Reichssache“, doch Hitlers Rede im Reichstag am 30. Januar 1939, in der er die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ prophezeite, war für jeden hörbar. Die Wannsee-Konferenz war keinesfalls einfach nur eine Verschwörung im Hinterzimmer einer Berliner Villa („Conspiracy“ ist der Titel einer BBC-Verfilmung von 2001). Vielmehr wurde das Ziel der Nationalsozialisten, die jüdischen Deutschen auszugrenzen, zu entrechten und zu verfolgen stets offen kommuniziert.

Der 20. Januar als Ort des Gedenkens

Immer wieder ist in den letzten Jahren die Präzedenzlosigkeit der Schoa infrage gestellt worden. Auch in dieser unseligen Debatte hilft ein Blick in das Protokoll der Wannseekonferenz, um das festzustellen, was Eberhard Jäckel bereits im Historikerstreit 1986 klar formuliert hat: „[D]aß der nationalsozialistische Mord an den Juden deswegen einzigartig war, weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluss mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte.“

In einem verstörenden Text hat Wolfgang Reinhard jüngst in der FAZ davon gesprochen, dass nichtjüdische Deutsche die „pflichtgemäße Erinnerungskultur jüdischer Art“ erst lernen mussten. „Inzwischen“, so Reinhard, sei „es allerdings angebracht, nach der Pflicht zum Erinnern auch an das Recht auf Vergessen zu erinnern.“ Wie Marc Grünbaum, in einem empörten Leserbrief sehr richtig erwidert hat, verkennt Reinhard dabei unter anderem, dass „das Gedenken auch einem universellen Anspruch dient, nämlich sichtbar zu machen, was Menschenfeinde anderen Menschen antun können und um die Würde des Menschen.“

Im 20. Januar liegt also ein doppelter Gedenkauftrag. Zum wird deutlich, wie wichtig und zugleich schwierig die Vermittlung von Wissen zum Nationalsozialismus und zur Schoa ist. Schon das fünfzehnseitige Protokoll ist ohne geschichtswissenschaftliche Einordnung kaum verständlich. Die komplexen Abläufe von Verfolgung und Vernichtung sind mittlerweile zwar gut erforscht, müssen aber neuen (und alten) Generationen auch vermittelt werden. Dies betrifft nicht nur den Schulunterricht, sondern beispielsweise auch die juristische Ausbildung und die Erwachsenenbildung (hier leistet die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz übrigens schon vorbildliche Arbeit).

1930 legte der Preußische Ministerpräsident Otto Braun eine umfangreiche Denkschrift vor, die den Nachweis führte, dass die NSDAP eine staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung war. Die Chancen des Dokuments, an der unter anderem der junge Robert Kempner im Preußischen Innenministerium mitgewirkt hatte, wurden verpasst. In seiner späteren Rolle als stellvertretender Ankläger in den Nürnberger Prozessen, griff Kempner schließlich auch auf das Wannseeprotokoll zurück, das einer seiner Assistenten 1947 gefunden hatte, und mit dem er schließlich die angeklagten Ministerialbeamten in den Nachfolgeprozessen konfrontierte. Insofern ist es vielleicht nur passend, sich Kempners Vorwort aus der Neuauflage der Denkschrift von 1930 in Erinnerung zu rufen: „Der Grundsatz, dass ewige Wachsamkeit der Preis für die Freiheit ist, muss stärker als bisher beachtet werden.“