Internationale Politik
Mein Arbeitsplatz – kein Platz für Belästigung und Gewalt
Die Istanbul-Konvention
Der Ausstieg der Türkei aus der „Konvention des Europarats zur Vorbeugung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, kurz als Istanbul-Konvention bekannt, im Jahr 2021 zog sowohl international als auch in der türkischen Gesellschaft starke Kritik auf sich. Begründung der türkischen Regierung war, dass die Konvention für die Förderung von LGBTI+-Rechten gekapert worden sei und den traditionellen Werten der Türkei entgegenstehe. Für den Schutz der Frauen vor Gewalt habe man ausreichend eigene Gesetzgebung. In der Tat bescheinigen die Vereinten Nationen dem Land sichtbare Fortschritte in den letzten 15 Jahren. Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz 6284, aus dem Jahr 2012) oder der geltende 4. Nationale Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (2021-2025) schaffen rechtliche Rahmenbedingungen zur Verbesserung der Lage. Das Problem liegt in der Umsetzung. So beklagen Frauenrechtsorganisationen, der Abschied von der Istanbul-Konvention sowie frauenfeindliche Äußerungen aus Regierungskreisen konterkarierten die Bemühungen um eine Verbesserung der Situation der Frauen. Die Zahl von dokumentierten Femiziden – Morden an Frauen, die mit ihrer sozialen Rolle als Frau zu tun haben – ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Im Jahr 2019 waren es laut der Organisation „We Will Stop Femicide“ 474.
Kämpferinnen gegen Diskrimierungen
Frauenrechtsorganisationen – traditionell stark und sichtbar in der Türkei – kämpfen daher an vielen Fronten darum, dass die erreichten Fortschritte nicht der derzeitigen restriktiven politischen Linie zum Opfer fallen. Dazu gehört auch, frauenfeindliche Stereotype und Verhaltensmuster in der Gesellschaft ins Bewusstsein zu bringen und zu verändern. Eine dieser Organisationen ist die Nichtregierungsorganisation Yanındayız (engl. „We Stand By You“), gegründet und geleitet von der Textilunternehmerin Nur Ger und Gleichgesinnten aus dem Unternehmenssektor. Anders als in klassischen Frauenrechtsorganisationen besteht ein Großteil des Vorstands und der Mitgliederschaft von Yanındayiız aus Männern – und auch die Zielgruppe der Organisation sind in erster Linie Männer, jene nämlich, die in der Arbeitswelt und in den öffentlichen Verwaltungen frauenfeindliches Verhalten leben und kulturell weitertragen.
Im Jahr 2022 widmete sich Yanındayız mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit der Situation in der Textilindustrie – einem Bereich, der der Yanındanyız-Präsidentin Nur Ger als Textilunternehmerin bestens bekannt ist und ihr am Herzen liegt. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist hier nach Aussage der Organisatoren weit verbreitet, das Bewusstsein für Fragen von Gleichberechtigung und Diskriminierung in der Arbeiterschaft kaum ausgeprägt. Für das Projekt, durchgeführt zwischen Mai und Oktober 2022, wurden zehn Orte ausgewählt, die im von Yanındayız erhobenen „Gender Equality Index“ eine besonders schlechte Bilanz aufwiesen. Dabei wurden sowohl Städte innerhalb der Türkei (Mardin, Şırnak, Adıyaman, Şanlıurfa, Batman) als auch Stadtteile innerhalb der Metropole Istanbul (Sultangazi, Bağcılar, Sancaktepe, Esenler, Avcılar) ausgewählt. 13 Textilfirmen beteiligten sich insgesamt, unter ihnen internationale Firmen wie H&M.
Kernstück des Projekts waren Trainings mit den Textilarbeiterinnen und -arbeitern zu Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und geschlechtsbezogener Gewalt. Traditionelle Geschlechterrollen wurden ebenso angesprochen wie Belästigung und sexistische Sprache sowie Formen geschlechtsbezogener Gewalt. In die Planung der Trainings, an denen insgesamt 1.561 Männer und Frauen teilnahmen, wurden die Arbeitervertreterinnen und -vertreter einbezogen. Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren das erste Mal mit den vermittelten Konzepten konfrontiert und wurden sich bewusst, dass sie frauenfeindliches Verhalten in ihrem Arbeitsalltag entweder erleben oder selbst ausüben. Anschaulich wurden diese Erkenntnis- und Lerneffekte nicht nur im direkten Gespräch, sondern auch durch Online-Befragungen der Teilnehmenden vor und nach den Trainings. Dabei waren sie etwa aufgefordert, kulturell verbreitete Klischees zu Rolle von Frauen zu bewerten. Gefragt war etwa der Grad der Zustimmung oder Ablehnung zu folgenden Fragen: „Eine Frau kann nachts allein ausgehen“, „Die Last, die Männer zu tragen haben, ist viel schwerer als die der Frauen“, „Frauen sollten lieber schweigen, wenn es eine Diskussion gibt“, „Gewalt liegt in der Natur des Menschen“, „Frauen, die sagen, dass sie Gewalt erfahren haben, übertreiben in der Regel“, oder „Wenn eine Frau in ein Gespräch mit sexuellem Inhalt hineingezogen wird, das sie nicht will, ist das sexuelle Belästigung“.
Aufklärung am Arbeitsplatz
Die Ergebnisse der Befragungen – besser gesagt die Veränderung der Ergebnisse nach erfolgtem Training – machen Hoffnung, dass sich durch geeignete Bildungsmaßnahmen tatsächlich festgefahrene Verhaltensmuster aufbrechen, für normal gehaltene frauenfeindliche Einstellungen in Frage stellen lassen. Einschränkend sagen die Organisatoren jedoch, dass die Effekte im Osten der Türkei deutlich geringer ausgefallen seien, ein Zeichen der starken traditionellen Prägung.
Begleitet wurde das Projekt von Infografik-Videos in den sozialen Medien, die in einfacher Bildsprache erklären, was sexuelle Belästigung ist und wie man sich in bestimmten Situationen verhalten sollte.
Nach Abschluss des Projekts sind sich dessen Initiatoren sicher: Aufklärung am Arbeitsplatz lohnt und hat einen Effekt. Doch die Trainings in 13 Fabriken waren nur ein Anfang, ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Arbeit muss nun ausgeweitet und mehr Interessenvertreter einbezogen werden. Dafür legte Yanındayız konkrete Empfehlungen vor und will sich für deren Umsetzung gemeinsam mit Unternehmen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen engagieren.
Das Yanındayız-Projekt will in erster Linie die „Täter“ ansprechen, das Verhalten von Männern verändern. Nach ihrem Fazit gefragt, sagen die Organisatoren trotzdem: „Das wichtigste Ergebnis war, dass die Frauen ihre Rechte kennengelernt haben und jetzt wissen, wo sie sich über sexuelle Belästigung beschweren können“.