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China Bulletin
China ist kein Monolith

An empty road in Chengdu, Sichuan province
© picture alliance / EPA | STRINGER

Am 16. Oktober beginnt in Peking der alle fünf Jahre stattfindende Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Im Vorfeld des Parteitags besuchte Xi mit anderen führenden Kadern eine Ausstellung zur „neuen Ära“, die die Erfolge seiner zehnjährigen Amtszeit feiert: Fortschritte in Wissenschaft und Technologie, Überwindung von Armut, Stärkung des politischen Systems und Erfolge der sogenannten “Dynamischen Zero-Covid"-Politik. Xi rief seine Gefolgs- und Landsleute zu Geschlossenheit auf, um ein neues Kapitel der Entwicklung Chinas zu schreiben. Die KPCh, so das Versprechen, werde unter Xis fortgesetzter Führung dem Land endlich zur Renaissance als moderne Wirtschafts- und Weltmacht verhelfen.

Doch die idyllische Zukunftsvision, die auf 30.000 Quadratmetern im Beijinger Nationalmuseum präsentiert wurde, blendet Herausforderungen und Probleme aus, denen sich die Partei mit zunehmender Dringlichkeit widmen muss. Insbesondere dieses Jahr war bis dato gezeichnet von Rückschlägen. Um Covid-Ausbrüche im Schach zu halten, hat die Regierung strikte Lockdowns eingesetzt – mit gravierenden Folgen. Im zweiten Quartal 2022 brach allein Shanghais Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahr um 13,7 Prozent ein. Zudem vernichteten extreme Hitze, Dürren und Überschwemmungen Ernten und Eigentum. Energieengpässe trafen insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen hart. Beobachter prognostizieren für China dieses Jahr mit etwa 4 Prozent eine der geringsten Wachstumsraten seit mehr als zwei Jahrzehnten. Auch Chinas internationaler Ruf hat durch den verbalen Schulterschluss mit Russland und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der nordwestlichen Region Xinjiang gelitten.

Unsicherheit und Unzufriedenheit

Trotz aller offiziellen Aufrufe zur Einigkeit: China ist kein Monolith. Nicht überall sind Experten, Unternehmer und Bürgerinnen und Bürger auf einer Linie mit der Parteiführung. Deswegen ist der Blick auf innerchinesische Debatten wichtig, wie sie trotz Zensur im digitalen Raum stattfinden. Sie zeigen immer wieder strukturelle Probleme auf. Zum Beispiel mit Blick auf die Frage, inwieweit der Parteistaat das Versprechen von Wohlstand und Stabilität für große Teile der Gesellschaft noch aufrechterhalten kann.

Noch zu ihrem 100. Jahrestag verkündete die KPCh 2021 den Sieg über absolute Armut und beschwor die neue Ära eines “gemeinsamen Wohlstands”. Doch aktuell ist nahezu jeder Fünfte der zwischen 16- und 24-jährigen chinesischen Staatsangehörigen arbeitslos. Im Internet diskutieren sie ihre Zukunftsaussichten. Im chinesischen Internet geben Neologismen der Unsicherheit und Unzufriedenheit Ausdruck. Unter dem Schlagwort „runxue“ (wörtlich: Wissenschaft des Weglaufens), wird Emigration thematisiert. Begriffe wie „neijuan“ (Involution) und „tangping“ (Flachliegen) stehen für die Verweigerung der Teilnahme in der Leistungsgesellschaft. Chinas Wirtschaft braucht innovationsfreudige neue Unternehmer, doch einen Großteil der Schulabsolventen zieht es in den sicheren Hafen staatlicher Behörden und Unternehmen. Die Teilnehmerzahlen an der Auswahlprüfung für den öffentlichen Dienst sind markant gestiegen und überschreiten 2022 erstmals die Zwei-Millionenmarke.

Insbesondere die harte Durchsetzung von „Zero Covid“ und die staatliche Willkür in dem Zusammenhang hat das Vertrauen der Bevölkerung in die propagierte Überlegenheit des chinesischen politischen Systems teilweise erschüttert. Nicht nur in Shanghai, sondern auch andernorts war die Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischer Betreuung teils nicht mehr sichergestellt. Bei einem Erdbeben in Sichuan wurden Anwohnerinnen und Anwohner eingesperrt, um das Virus im Zaum zu halten. Bei einem Busunglück starben 27 Personen, die als potenzielle Risikokontakte tief in der Nacht in ein Quarantänezentrum transportiert wurden. Auch der Missbrauch von „Gesundheitscodes“, die lokale Behörden auf Rot schalteten, um Proteste zu verhindern, führte zu einer öffentlichen Debatte um gesammelte Daten und Missbrauchspotential. In Videos „Stimmen des April“ und Blogposts verarbeiten die Menschen ihre Wut – auch wenn diese teils schnell wieder gelöscht werden.

Kritik an Abschottung und Druck in Taiwan-Frage

Kritik wird am ehesten dort laut, wo Bürgerinnen und Bürger direkt mit Auswirkungen auf ihr Leben konfrontiert sind. Doch auch Chinas Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft und zunehmende Abgrenzung ist nicht unumstritten. Dies zeigt sich in der Debatte um Chinas offizielle Positionierung und Sprachgebrauch zu Russlands Krieg in der Ukraine. Spricht die Regierung nach wie vor von „Krise“ oder „Problematik“ übernehmen Expertinnen und Experten – sowohl parteinahe als auch kritischere Stimmen – diese Euphemismen meist nicht. Beiträge, die Russland klar die Schuld am Konflikt geben und Chinas Politik infrage stellen, werden allerdings aktiv zensiert.

Ende August veröffentlichten Autoren der chinesischen Akademie für Geschichtswissenschaft einen Artikel, der die Abschottungspolitik der Ming- und Qing-Dynastien rückwirkend als „autonome Selbstbegrenzung“ beschreibt. Die Analyse versucht damit, das Streben nach Autarkie unter Xi Jinping als notwendige Schutzreaktion zu legitimieren. Auch hier finden sich kritische Stimmen, die auf Nordkorea als mahnendes Beispiel der Abschottung verweisen.

Auch das Thema Taiwan ist für die Führung um Xi Jinping nicht unproblematisch. Nationalistische Stimmungen sind für Chinas Regierung ein willkommenes Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Herausforderungen und werden durchaus ermutigt. So verwundert es nicht, dass die überwiegende Mehrheit von Kommentaren auf Online-Plattformen eine härtere Gangart von Peking fordert – nicht nur reden, sondern handeln. Damit setzen die Autorinnen und Autoren Peking unter Druck, zu einer Zeit, in der sich die chinesische Führung (noch) nicht bereit für eine militärische Auseinandersetzung fühlt.

Die chinesische Regierung hat zwar einen weitreichenden Überwachungsstaat und ein leistungsstarkes Zensurregime aufgebaut. Doch auch dieser ist nicht allmächtig, wie immer wieder aufflammende Debatten zeigen. Die neue Führung muss sich mit einer Reihe von Themen auseinandersetzen muss, um das Fundament an Zuspruch, gerade innerhalb der urbanen Mittelschicht, nicht zu verlieren.

*Katja Drinhausen leitet den Programmbereich Innenpolitik und Gesellschaft am Mercator Institute for China Studies (MERICS). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Chinas politischem System, parteistaatlicher Ideologie, Zensur und gesellschaftliche Debatten, sowie Menschenrechten in China.

 *Kristin Shi-Kupfer ist Professorin für Sinologie an der Universität Trier, Senior Associate Fellow bei MERICS und Mitglied der Sino-German Expert Group on Digital Business Models des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Sie ist Expertin für Chinas Digitalpolitik, Ideologie und Medienpolitik, Zivilgesellschaft und Menschenrechte.

China Spektrum bietet Einblicke in Debatten und Positionen unter chinesischen Intellektuellen und Expert:innen sowie in Themen, welche die breite Öffentlichkeit bewegen und mitunter kontrovers diskutiert werden. China Spektrum ist ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS), mit Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

 Aktuelle Analysen finden Sie in den ersten Publikationen des Projektes, den China Spektrum Report von August und den China Spektrum Reader von September 2022. Weitere Hintergründe erläutern die beiden Projektleiterinnen Kristin Shi-Kupfer und Katja Drinhausen in einer Folge des MERICS Podcasts.