Parlamentswahlen
Südkorea wählt, Covid-19 entscheidet
Anfang März hatte Südkorea knapp 1.000 neue Covid-Infektionen täglich und Deutschland wenige Dutzend. Einen Monat später gab es in Deutschland Tag für Tag tausende neue Ansteckungen und in Südkorea nur noch ein paar Dutzend. Die vier Wochen, in denen Südkorea Covid-19 bändigte, waren Sternstunden der Regierung um Präsident Moon Jae-in. Seine Minister traten als entschiedene Macher auf. Deshalb könnte Moons Demokratische Partei die Parlamentswahl doch noch gewinnen.
Als Covid-19 über Südkorea hereinbrach und Ende Februar die Neuinfektionen explodierten, wollten die politischen Gegner von Präsident Moon daraus Kapital schlagen. Sie warfen ihm mangelhaftes Krisenmanagement vor und starteten eine Initiative zur Amtsenthebung. Innerhalb weniger Tage kamen mehr als über 1,4 Millionen online-Unterschriften zusammen. Damals, sechs Wochen vor der Parlamentswahl, hätte niemand darauf gewettet, dass die Regierung Covid-19 in den Griff und die Wähler doch noch hinter sich bekommt. Doch dann kamen schnelles Regierungshandeln, Drive-Through Tests, Transparenz, Apps und eine immer flachere Covid-Kurve, von der andere Länder träumen. Mittlerweile schaut die Welt mit einer Mischung aus Respekt und Lernwillen auf Südkorea. Das Land war zu Beginn der Krise nach China am zweitschlimmsten betroffen. Nun, Dank flacherer Kurve, steht Südkorea auf der Liste der weltweiten, akuten Erkrankungen auf Platz 31. Selbst kleine Länder wie die Schweiz und Belgien mit weniger als 9 Millionen Einwohnern haben derzeit mehr Infektionen als Südkorea, wo mehr als 50 Millionen Menschen leben. Den Kampf gegen Covid-19 bezeichnete Präsident Moon Jae-in als „Krieg“. Einiges erinnerte tatsächlich an militärische Entschiedenheit, Durchsetzungskraft und Disziplin. Folgerichtig uniformierte man sich auch: Die Corona-Bekämpfer in der Regierung traten oft einheitlich in gelben Jacketts der Notfallretter auf.
Der „Krieg gegen Covid-19“ entscheidet die Wahl
Moon Jae-in und seine Partei hatten 2019 dramatisch an Zustimmung verloren, weil Probleme wie hohe Jugendarbeitslosigkeit, erlahmende Wirtschaft oder eine Preisexplosion am Immobilienmarkt ungelöst waren. All diese Probleme sind zwar weiterhin ungelöst. Und sie werden sich voraussichtlich noch dramatisch verstärken. Für den Moment aber überlagert das Virus praktisch Alles. Und gegen Covid-19, so der Eindruck, gewinnt die Regierung ihren Krieg. Eigentlich sollte das soziale Distanzgebot bereits Anfang April enden. Doch daraus wurde dann doch nichts. Im Gegenteil: manche einschränkenden Maßnahmen wurden verschärft. Jedem ist klar, dass es nur wenig braucht, um eine erneute Covid-Eskalation hervorzurufen. Niemand in der Regierung und niemand in der Demokratischen Partei möchte dies riskieren – und sich kurz vor dem Wahltag die gerade erst wieder neu gewonnene, optimistische Stimmung verhageln lassen. Daher wurde das Gebot des Social Distancing verlängert.
Abstand und Desinfektion: Wahlkampf und Wahltag ganz anders
Normalerweise geht es bei Wahlkämpfen in Südkorea äußerst temperamentvoll zu. Jetzt, ein paar Tage vor der Wahl, fänden gewöhnlich Kundgebungen und Demonstrationen statt. Früher mobilisierten Parteien ihre Anhänger. Politiker suchten das Bad in der Menge und schüttelten Millionen von Händen. Doch nun, zur Covid-Zeit, ist all das undenkbar. Nun verbergen Gesichtsmasken das übliche Wahlkampfstrahlen der Politiker. Gruppenfotos und Selfies mit Kandidaten sind verpönt, weil man sich nahekommt. Wer sich doch zu Nähe hinreißen lässt, wird dafür umgehend von Medien oder Quarantänewächtern abgemahnt. Auf Straßen und Plätzen ist der Wahlkampf auf ein Minimum reduziert. Gesetzlich ist er ohnehin auf nur zwei Wochen begrenzt. Vieles wurde ins Internet verlagert, wo die Kandidatinnen und Kandidaten um Aufmerksamkeit ringen. Einer zeigt, dass und wie er einen 400 Kilometer langen Lauf absolviert hat. Ein anderer lockt Wähler mit einer „Zitronenverzehr-Challenge“.
Natürlich gab es auf dem Höhepunkt der Krise massive Bedenken, ob die Wahlen überhaupt durchgeführt werden können. 44 Millionen Menschen sollen 14.500 Wahllokale besuchen. Doch man hat sich für die Wahl entschieden – und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Vor dem Eintreten in das Wahllokal wird die Körpertemperatur der Wähler gemessen werden. Die obligatorischen Flaschen mit Handdesinfektionsmitteln werden bereitstehen. Wahlkabinen und Stimmzettel werden ganztägig desinfiziert. Eine niedrige Wahlbeteiligung aus Angst vor Ansteckung soll unbedingt vermieden werden. Corona-Patienten in Quarantäne können online abstimmen – wenn sie dies bis Ende März beantragt hatten.
Auf den Stimmzetteln werden 35 Parteien stehen – mehr als je zuvor. Die größten sind die Regierungspartei DPK (Demokratische Partei) sowie das erst im Februar 2020 gegründete Oppositionsbündnis UFP (United Future Party), in dem sich drei Parteien zusammengeschlossen haben. Die DPK hat im aktuellen Parlament nicht die absolute Mehrheit, sie musste sich ihre Mehrheiten organisieren.
Gestärkter Präsident oder Lame Duck?
Die anstehenden Parlamentswahlen finden in der Mitte der Amtszeit des direkt gewählten Präsidenten Moon statt. Der Ausgang hat für seine weiteren Gestaltungsmöglichkeiten entscheidende Bedeutung. Sollte die Opposition im Parlament signifikant gestärkt werden, dürfte die ambitionierte aber insgesamt nur begrenzt erfolgreiche Agenda des Präsidenten an ihre Grenzen stoßen. Die Herausforderungen sind riesig. Covid-19 hat großen wirtschaftlichen Schaden angerichtet. Noch ist nicht bekannt, wie viele kleine Betriebe, Selbständige, Startups, Restaurants und Dienstleister die Krise nicht überstehen werden. Zwischenzeitliche Finanzhilfen für arme Familien haben bestenfalls schlimmste Not gelindert. Nun müssen die langfristigen Probleme in den Blick genommen werden. Längst ist ein wahrer Überbietungswettbewerb zur Wiederbelebung der Konjunktur entfacht. Kein Programm kann groß genug sein, keine Summe hoch genug, als dass sie nicht von politischen Mitbewerbern kurz vor der Wahl noch einmal erhöht werden würde. Im Wahlkampf geht kein Weg daran vorbei, sich um die massiven Zukunftsängste vieler Menschen zu kümmern.
Fatal für Südkorea wäre ein Wahlergebnis, das die Regierungsbildung schwierig macht. Nach der Wahl und nach dem Ende der Krise kann das Land sich keinen politischen Stillstand und kein langwährendes Entscheidungsvakuum leisten. Trotz besserer Umfragewerte für die Demokratische Partei in den vergangenen Wochen ist keine verlässliche Voraussage zum Wahlausgang möglich. Denn so etwas gab es noch nie: eine Wahl, bei der ein Virus die Hauptrolle spielt.
Dr. Christian Taaks leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Seoul.