Täglich grüßt der Brexiteer
Eine geheime Studie der britischen Regierung erwartet massive wirtschaftliche Einbußen für das Vereinigte Königreich nach dem Austritt aus der EU. Teile des Berichts sind jedoch aufgedeckt und öffentlich gemacht worden. Sie zeichnen ein düsteres Bild von der Zukunft und vertiefen die Gräben im politischen Streit in Westminster.
In seinem Buch „Plädoyer für Europa“ argumentierte der britische Diplomat und liberale Politiker Gladwyn Jebb 1966 mit großer Leidenschaft, das Vereinigte Königreich solle einer zukünftigen Europäischen Politischen Gemeinschaft beitreten. Er hielt es zwar für möglich, dass der Beitritt seines Heimatlandes nicht gelingen werde; doch dass es den Nachfahren seiner Zeitgenossen einfallen könnte, den sehr wohl gelungenen Beitritt Jahrzehnte später wieder rückgängig zu machen, hätte er sich wahrscheinlich nicht träumen lassen.
In „Plädoyer für Europa“ geht es viel um wirtschaftliche Zahlen. In der aktuellen britischen Debatte um den Austritt aus der EU und dessen Gestaltung geht es gerade auch um Zahlen – nur umgekehrt: Die Regierung von Premierministerin May hat versucht, die Einschätzung ihres eigenen „Brexit-Ministeriums“ zu den wirtschaftlichen Folgen des Austritts zu verheimlichen. Dazu hatte sie auch guten Grund.
Laut der Studie, die unter Leitung des Ministers für den Austritt aus der EU, David Davis, und mit Unterstützung anderer Ministerien erstellt wurde, wird der Brexit dem Vereinigten Königreich selbst im günstigsten Fall gravierende ökonomische Einbußen bescheren. Sollte es zu keiner Einigung mit der Europäischen Union, also zu einem so genannten harten Brexit, kommen, würden den britischen öffentlichen Haushalten in den nächsten 15 Jahren insgesamt 90 Milliarden Euro fehlen. Ein mögliches Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten ist in diese alarmierende Rechnung bereits eingepreist. Das befürchtete Haushaltsloch soll insgesamt sogar 135 Milliarden Pfund betragen. Dieser Summe stehen jedoch Ersparnisse von 45 Milliarden gegenüber, die wegen der wegfallenden EU-Beiträge und niedrigerer Standards beim Umweltschutz angenommen werden.
Ausnahmslos negative Brexit-Szenarien
Die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum unterscheiden sich laut des Berichts von Region zu Region, sind aber ausnahmslos negativ. Am stärksten betroffen wären im Falle eines harten Brexits die Regionen Nordost (-16%) und Nordwest (-12%). Sollte das Vereinigte Königreich im Binnenmarkt verbleiben, würde das Wirtschaftswachstum der genannten Regionen immer noch um zwei bis drei Prozentpunkte gegenüber dem Szenario eines Verbleibes in der EU sinken. Ironischerweise träfe der Austritt damit diejenigen Regionen am härtesten, die sich im Referendum von 2016 mit der größten Mehrheit für den Austritt aus der EU ausgesprochen hatten. Der Südwesten und London kämen glimpflicher davon. Je nach Austrittsszenario variieren die geschätzten Wachstumsverluste hier zwischen einem und fünf Prozent.
Gibt es keine Einigung mit der EU, rechnet die Regierung darüber hinaus mit stark steigenden Lebenshaltungskosten. Dies gilt vor allem für solche Güter, die auf den Inseln nicht in ausreichendem Maß hergestellt werden können. So würden die Preise für Lebensmittel um 17% und für Autos und Zubehör um 14% steigen. Ein allgemeines Absinken des Lebensstandards wäre die spürbare Konsequenz. Die Abwertung des Pfundes nach dem Referendum und gesunkene Löhne sorgen schon heute dafür, dass britische Arbeitnehmer jährlich einen durchschnittlichen britischen Wochenlohn einbüßen.
Blamage für May
May’s Regierung hatte versucht, diese im Januar fertiggestellte Studie geheim zu halten. Die Ergebnisse gefährdeten die Verhandlungsführung mit der EU, so die Begründung. Einige der genannten Zahlen erschienen jedoch schon kurze Zeit später auf der Online-Plattform BuzzFeed. Unterhausabgeordnete der Labour-Party und des pro-europäischen Tory-Flügels forderten daraufhin, Einsicht in die Ergebnisse zu erhalten und strengten eine erfolgreiche Abstimmung an. Die oben beschriebenen Teile des Berichts stehen den Parlamentariern seitdem offen.
Die neuen Zahlen, vor allem aber die peinliche Art und Weise ihrer Veröffentlichung, sorgten für neuen Zündstoff innerhalb der ohnehin fragilen Regierungsmehrheit hinter der Premierministerin. Bei den Torys sind die Befürworter eines Verbleibs in der EU (Remainer) und die Verfechter eines Brexits um jeden Preis (Brexiteers) trotz gegensätzlicher Ansichten gezwungen, das Mammutprojekt Brexit gemeinsam zu stemmen. Ergänzt wird diese unglückliche Regierungsmannschaft durch die regionalen Partikularinteressen der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP). Vertreter der Letzteren haben auch gleich den Vorwurf formuliert, die Remainer hätten die Ergebnisse des Berichts an BuzzFeed durchgestochen, um das Austrittsprojekt zu unterminieren.
Mehrere Brexiteers kritisierten die Methodik der Regierungsstudie und bemängelten, man könne keine glaubhaften wirtschaftlichen Prognosen treffen, welche 15 Jahre in die Zukunft reichten. Es gäbe zu viele Faktoren, die nicht abzuschätzen oder bei der Berechnung nicht berücksichtigt worden seien. Diese methodologischen Vorwürfe mögen berechtigt sein. Doch immerhin ist es das Brexit-Ministerium selbst, also jene Behörde, die den Austrittsprozess maßgeblich vorantreibt, die diese Zahlen vorlegt. Der Regierung könnte also höchstens erklären, den eigenen Zahlen nicht glauben zu wollen, gleichzeitig aber über keine besseren zu verfügen. Eine erfolgreiche Rechtfertigung für den eigenen Kurs sieht anders aus. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Regierung May die Zahlen am liebsten für sich behalten hätte.
Lord Gladwyn beendete sein Plädoyer für einen Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft übrigens, indem er von seinen Landsleuten Folgendes forderte: „Erst der Wille, dann die Konzeption, dann die Tat!“. Diese drei Schritte sollten auch für den umgekehrten Prozess, also den Austritt gelten. Über den ersten Schritt scheint die Regierung bislang nicht hinaus gekommen zu sein. Geht es nach der Vernunft, dürfte es zum dritten gar nicht kommen.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.