Uneiniges Königreich? Geeintes Europa?
Der ehemalige britische Handelsminister Stephen Lord Green diskutierte in Magdeburg die Auswirkungen des Brexits auf Europa. Seine Rede im Wortlaut:
"Konfuzius, so wird es ihm jedenfalls nachgesagt, habe den berühmten Satz geäußert: 'Mögen Sie in interessanten Zeiten leben.' Obschon dieses Sprichwort in keiner der üblichen konfuzianischen Schriften vorkommt, ist es nichtsdestoweniger zu einem Klischee unserer Zeit geworden. Tatsache ist, dass wir Briten wahrhaftig in interessanten Zeiten leben. Wir befinden uns geradezu an einem Scheideweg unserer Geschichte - der wichtigste, meines Erachtens, seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Brexit-Entscheidung war, meiner Meinung nach, ein gravierender Fehler. Wir können sie aber nicht rückgängig machen. Wir werden nicht wie aus einem Albtraum erwachen und mit Erleichterung feststellen, dass alles so ist, wie vorher. Es gibt eine neue Realität, mit der wir unbedingt umgehen müssen. Unsere Aufgabe ist es, nicht nur eine neue Strategie für das Vereinigte Königreich zu entwickeln, sondern auch eine neue, enge Partnerschaft mit dem EU aufzubauen. Die britische Premierministerin spricht von einem neuen „Global Britain“. Was aber heißt das im Detail? Was bedeutet der Brexit für die britische Volkswirtschaft und welche Rolle wird Großbritannien in den nächsten Jahrzehnten auf der politischen Weltbühne spielen? Und letztlich, welche Auswirkungen wird der Brexit auf das europäische Projekt haben? Wird es dadurch gestärkt, dass ein schon immer problematischer Mitgliedsstaat aussteigt? Oder wird es durch den Brexit geschwächt werden, vor allem im Hinblick auf den immer härter werdenden Wettbewerb mit unseren aufstrebenden asiatischen Nachbarn?
Großbritannien ist tief gestalten
Ich muss zu Beginn ein Bekenntnis ablegen: Ich persönlich war und bin ein überzeugter, ja ein leidenschaftlicher 'Remainer' - und die meisten meiner Freunde und Bekannten waren es auch. Für mich war das Ergebnis des Referendums nicht nur eine Enttäuschung, sondern auch ein tiefer Schock - obwohl die Meinungsumfragen der vorherigen Wochen deutlich gezeigt hatten, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden würde. Aber für viele Leute - etwa die Hälfte der britischen Bevölkerung - war es weniger ein unangenehmer Schock als eine sehr willkommene Überraschung. Für sie ging geradezu die Sonne wieder auf: ihre Nation war endlich auf dem Weg, sich von Brüssel zu befreien. Und sogar heute - nachdem es immer deutlicher wird, dass der 'Befreiungsprozess' viel komplexer ist, als es die Brexit-Befürworter versprochen hatten - zeigen die Meinungsumfragen, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung noch immer für den Brexit stimmen würde.
Tatsache ist: Großbritannien ist tief gespalten. Alt gegen jung; Gebildete gegen weniger Gebildete; Wohlhabende gegen weniger Privilegierte; Großstädte gegen kleinere Städte; alte gegen neue Wirtschaftsregionen; Schottland und London gegen den restlichen Teil Englands und Wales; usw. Die Tragödie besteht darin, dass es auf der einen Seite eine große Mehrheit der unter 25-Jährigen gibt, die für eine europäische Zukunft Großbritanniens sind, und auf der anderen Seite eine große Mehrheit der über 50-Jährigen, die für den Ausstieg stimmten. Wenn Cameron doch nur fünf Jahre länger gewartet hätte.
Warum die Briten für den Brexit stimmten
Wenn man die Entscheidung der Briten verstehen möchte, sind drei Punkte besonders wichtig: zunächst ist festzuhalten, dass die Migrationsfrage eine entscheidende Rolle in der Pro-Brexit-Kampagne spielte. Deutschland hat seine eigenen Schwierigkeiten mit diesem heiklen Thema. In Großbritannien hat das sogenannte Establishment es über Jahre hinweg versäumt, eine ehrliche Debatte über die Konsequenzen ihrer Einwanderungspolitik zu führen – und dass bei einer durchschnittlichen Nettoeinwanderung von ca. 250,000 Menschen pro Jahr in den letzten 20 Jahren. Das macht in etwa eine neue Großstadt von der Größe Birminghams alle fünf Jahre aus - und das in einem Land, das schon immer eines des am stärksten besiedelten Europas war. Der Wunsch, die Grenzen kontrollieren zu dürfen, war weit verbreitet. Und von dem Moment an, als David Cameron seine Kollegen im Ministerrat der EU nicht davon überzeugen konnte, provisorisch die Notbremse bei der Einwanderung ziehen zu dürfen, war seine „Remain-Kampagne“ in sehr großer Gefahr.
Das heißt jedoch nicht, dass die Briten dafür gestimmt hätten, ihr Land in eine Festung umzubauen, was mich zu meinem zweiten Punkt führt: es wäre eine gravierender Fehler, das britisches Votum mit der Wahl Donald Trumps gleichzusetzen. Die selbstdefinierte Identität der Briten ist die einer offenen Nation - einer Nation mit einer langen Tradition im Außenhandel (man darf nicht vergessen, dass das britische Empire zuallererst ein riesiger Handelsbereich war). Die Mythen der Briten sind mit den Ozeanen verbunden, ihre Geschichte ist über die Jahrhunderte hinweg nach außen orientiert. Sogar heute, Jahre nach der Auflösung des Empires, leben Tausende Briten in der ganzen Welt verstreut. Es gibt mehr Briten, die im Ausland (d.h. außerhalb Europas) wohnen als im Falle irgendeines anderen großen Mitgliedstaates der EU. Es gibt eine Million britische Staatsbürger, die in Australien wohnen, mehr als eine halbe Million in den USA und mehr als 300.000 in Kanada. All diese Verbindungen begründen und fördern eine Orientierung, die das britische Selbstverständnis über Jahrzehnte hinweg zutiefst geprägt hat. Das erklärt auch die erheblichen Unterschiede zwischen „Brexit-Britain“ und den USA unter Trump. Trumps Rhetorik und seine Leitmotive – Jobs, die angeblich von Ausländern gestohlen werden, subventionierte Exporte aus China, die den heimischen Markt fluten würden - spielten absolut keine Rolle in den Debatten um das Brexit-Referendum. Die sogenannten „Leavers“ sind Befürworter des Freihandels. Das sind Leute, die Cousinen und Cousins in Kanada und Australien haben. Die Britische Regierung spricht von einem „Global Britain“ - von einer Nation, die der Bannerträger für eine globale Handelspolitik sein will, die offen ist und die für bessere Lebenschancen weltweit eintritt. Ob dies realistisch ist oder bloß eine romantische Vision, geprägt von der Nostalgie ehemaliger britischer Dominanz, bleibt zu diskutieren. Fakt ist aber, dass es solche Ideen waren, die die Pro-Brexit-Kampagne mitbestimmt haben. Und es hilft nicht, sie zu verleugnen. Theresa May - oder sogar Boris Johnson - sind nicht Donald Trump.
Drittens: Uneinigkeit in dem Vereinigten Königreich heißt nicht, dass das Königreich fragil ist. Vor dem Referendum hatte ich persönlich gedacht, dass ein Ausstieg aus der EU die Integrität des Königreiches gefährden würde. Nur zwei Jahre zuvor stimmten 45% der Schotten in einem Referendum für die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich. Unmittelbar nach dem Ergebnis des Brexit-Referendums war ich der festen Überzeugung, dass die schottischen Nationalisten sich diese Gelegenheit zunutze machen würden, um ein neues Referendum über ihre Unabhängigkeit zu beantragen. Und sie haben tatsächlich mit einem erneuten Referendum über die Loslösung Schottlands vom Vereinigten Königreich gedroht - und das bereits im nächsten Jahr. Das wiederum war ein politischer Fehler: Theresa May kann eine solches Referendum der Schotten vor dem endgültigen Austritt Großbritanniens aus der EU ohne politische Schwierigkeiten verweigern. Die Parlamentswahlen letzten Sommer spielten ihr dabei noch in die Karten. Zwar hat Theresa May unerwartet schlecht bei den Wahlen abgeschnitten, jedoch gab es für sie immerhin einen Silberstreifen am Horizont: die schottische Nationalisten hatten ein noch schlechteres Ergebnis eingefahren und 21 Sitze im Parlament verloren. Die meisten davon gingen an Mays Konservative. Vor der Wahl hatten sie noch 56 der 59 schottischen Wahlkreise in Westminster repräsentiert.
Das soll jedoch nicht heißen, dass die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit ein für alle Mal vom Tisch ist. Wohl aber, dass das Schreckensszenario einer Loslösung Schottlands – oder die Hoffnung darauf (je nachdem, aus welcher Perspektive man die Frage betrachtet) - jetzt in weite Ferne gerückt ist. Auch die Meinungsumfragen zeigen sehr deutlich, dass eine neue Debatte über die Unabhängigkeit Schottlands oder gar ein erneutes Referendum keine Unterstützung bei der schottischen Bevölkerung findet.
Wie geht es weiter mit den Brexit-Verhandlungen?
Viele werden sich fragen, was während der Brexit-Verhandlungen passieren wird und wie das Endergebnis aussehen soll. Es gibt ein pessimistisches Szenario und ein vernünftiges. Gemäß dem Sprichwort „der dunkelste Moment in der Nacht kommt kurz vor dem Sonnenaufgang“ befinden wir uns jetzt, hoffentlich, in diesem dunkelsten Moment. Es gibt noch keine Einigung darüber, dass wir genügend Fortschritt erreicht haben, um zur nächsten Stufe der Verhandlungen überzugehen. Erst wenn die drei Prioritäten der EU geklärt sind, kann über die zukünftige Beziehung zwischen Großbritannien und der EU verhandelt werden. Diese drei Prioritäten sind: erstens die Budget-Frage - wieviel muss die britische Regierung zahlen, um ihre verschiedenen Verpflichtungen einzuhalten? - zweitens die Frage nach den Rechten der EU-Bürger in Großbritannien und der Briten, die in der restlichen EU wohnen, und drittens die Frage nach der irischen Grenze.
Die Budgetfrage ist hochsensibel - für beiden Seiten. Die EU hat den Briten eine enorm hohe Austrittsrechnung von über 100 Milliarden Euro vorgelegt. Die britische Regierung hat zwar inzwischen anerkannt, dass sie etwa 20 Milliarden Euro zahlen muss, jedoch gibt es immer noch eine relativ große Lücke zwischen den Erwartungen der EU und Großbritannien und man muss versuchen, irgendwie, irgendwann einen politischen Kompromiss zu schließen. Die Herausforderung für Theresa May wird sein, eine Lösung zu finden, die die Brexit-Befürworter in ihrer Partei und im Parlament sowie auch die britischen Medien akzeptieren würden. Ich wage keine Summe zu nennen, vorstellbar ist jedoch, dass das Angebot der britischen Regierung an die EU z.B. mit einer fortdauernden Teilnahme an spezifischen EU Programmen - Erasmus, Horizon 2020 - verknüpft werden könnte.
Was die Frage nach den Rechten der Unionsbürger angeht, so finde ich persönlich den Mangel an Fortschritt in dieser Hinsicht höchst deprimierend. Auf beiden Seiten war man vom ersten Moment an - so schien es jedenfalls - bereit, eine schnelle Lösung zu finden. Seit dem Referendum leben ca. 4 Million Menschen – davon 3 Million in Großbritannien und 1 Million in der restlichen EU - in großer Unsicherheit darüber, welche Rechte sie nach dem Brexit haben werden. Zwar konnten die Chefunterhändler bei den meisten Punkten eine Einigung erzielen, jedoch gibt es eine überraschend hohe Anzahl von spezifischen Aspekten, die Schwierigkeiten für die eine oder die andere Seite verursachen, sodass - kurz gesagt - die ganze Sache im Moment festgefahren ist. Das ist sehr bedauerlich. Obwohl bestimmt für alle offenen Fragen eine Lösung gefunden werden kann, dauert die Einigung deutlich zu lang. Und daran sind beide Seiten schuld.
Im Hinblick auf die irische Frage ist mittlerweile jedem bewusst, wie gefährlich eine physische Grenze für die brüchige Identität Nordirlands wäre. Ein Wiederaufflammen des Nordirlandkonflikts - bei dem mehr als 20.000 Leuten ums Leben kamen - gilt es, um jeden Preis zu vermeiden. Und das wissen alle: die irische wie die britische Regierung, und auch die EU haben die Komplexität und die Gefahr einer physischen Grenzen begriffen.
Ironischerweise birgt die Frage nach der irischen Grenze auch eine Chance für die Brexit-Verhandlungen. Ein „harter Brexit“, also ein klarer Bruch zwischen Großbritannien und der restlichen EU, wäre mit der Wahrung des nordirischen Friedens nicht vereinbar: Weder Grenzkontrollen, noch Unterbrechungen des freien Personenverkehrs auf der irischen Insel oder gar eine physische Mauer sind ernsthaft in Erwägung zu ziehen, wenn man den Frieden in Nordirland nicht gefährden will.
Wie die Verhandlungen weitergehen und wie das Endergebnis aussehen wird, wissen wir noch nicht. Aber eins ist klar: das neue Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU kann nicht anders als sehr eng und die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen sehr dicht bleiben. Die Briten und die EU können kaum die Gegebenheiten der Geografie, die Lektionen aus der Geschichte und – wenn ich noch hinzufügen darf - die geteilten kulturelle Werte verleugnen. Trotzdem werden wir abwarten müssen, wie die Verhandlungen verlaufen werden. Es gibt Grund zur Hoffnung, aber auch gewisse Risiken.
Was bedeutet der Brexit für das europäische Projekt?
Schließlich noch ein paar Worte zur EU. Ist die EU nun mehr geeint als zuvor? Wird es leichter sein, das europäische Projekt ohne die unbequemen Briten weiterzuentwickeln? Ehrlich gesagt hege ich persönlich ein paar Zweifel an dieser Theorie. Denn am Horizont ballen sich die Gewitterwolken. Auf das europäische Anhängsel der eurasischen Landmasse kommen viele Herausforderungen zu: das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft hat sich nach Asien verlagert; Europa ist nicht mehr Austragungsort des Kalten Krieges und darum für die USA nicht mehr von höchster strategischer Priorität. Um Europa herum herrscht Aufruhr und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme sind zum Nährboden für Unruhe in vielen Mitgliedstaaten geworden. Und all dem zugrunde liegt eine Identitätskrise – was heißt es, in einem zunehmend vernetzten 21. Jahrhundert europäisch zu sein? Was hat Europa der Welt zu bieten?
Deutschlands neue Führungsrolle
Mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien hatten wir eine effektive Führung innerhalb Europas, die im Großen und Ganzen stabil war. Das heißt nicht, dass alle drei Staaten immer einer Meinung waren, aber gerade die verschiedenen Perspektiven dieser drei Mitgliedstaaten haben eine Balance hergestellt und den Ball am Rollen gehalten. Ohne Großbritannien wird das Dreieck durch eine Achse ersetzt und weil mit Frankreich das eine Ende dieser Achse schwächer ist, muss Deutschland eine Führungsrolle in der Weiterentwicklung des europäischen Projekts übernehmen.
Die Deutschen scheinen sich aber nicht sehr wohl bei diesem Gedanken zu fühlen.
Und das aus offensichtlichen Gründen. Deutschlands Position in Europa war sowohl für den Rest der EU wie auch für Deutschland selbst lange Zeit eine Herausforderung. Nichtsdestotrotz kann man die objektiven Realitäten nicht verleugnen. Die Nervosität in den deutschen Köpfen ist stärker geworden, weil die Franzosen bis vor Kurzem relativ schwach waren und sich an der Last der Führung nicht ausreichend beteiligt haben. Das könnte sich mit Macron nun ändern. Die Briten haben sich derweil entschlossen, auszuscheiden. Die Konsequenzen sind leider, dass sich Deutschland auf der Kommandobrücke alleine fühlen wird.
Aus der neuen Rolle, die Deutschland zuwächst - ob es den Deutschen nun gefällt oder nicht - ergeben sich wiederum spezifische Gefahren und Herausforderungen. Für meine britischen Freunde habe ich eine nüchterne Mitteilung: Der Brexit ist in keiner Weise die höchste Priorität der Deutschen. Es gibt so viele andere Anlässe zur Sorge. Russland, zum Beispiel, das weit stärker im deutschen Bewusstsein ist als etwa im britischen. Russland ist psychologisch viel näher, wenn man sich in Magdeburg befindet als etwa von London aus betrachtet. Und es ist weit wichtiger, wenn man bedenkt, dass ca. 35% des deutschen Erdölbedarfs und 40% des Erdgasbedarfs aus russischer Produktion kommen. Die Geschichte hat gezeigt, dass das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland immer schon ein angespanntes war und auch bleibt. Hier in Deutschland weiß man, dass man die Suppe mit einem langen Löffel essen muss, wenn Putin mit am Tisch sitzt.
Die Türkei ist der andere gegenwärtige Problemfall Deutschlands. Wie im Fall Russlands hat man den Eindruck, dass die Türkei von Deutschland aus gesehen sehr viel näher ist. Insgesamt ist das Verhältnis extrem angespannt. Zum einen bemüht man sich um die Loyalität der 4 Millionen Türken, die mitten in der deutschen Gesellschaft leben. Zum anderen ist Merkel auf die Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung angewiesen, wenn es um die Aufnahme syrischer Asylsuchenden geht. Merkel kann sich keinen weiteren Ansturm syrischer Flüchtlinge auf Deutschland leisten. Besonders jetzt nicht, da die AfD mit dem Einzug in den Bundestag eine geeignete Plattform für ihre rechtspopulistischen Parolen gefunden hat.
Europas Herausforderungen
Dann wären da noch die internen Herausforderungen der EU. Während sich Wirtschaftswachstum und Arbeitslosenzahlen weiterhin positiv entwickeln, sieht sich die EU mit drei Fragen konfrontiert, die die Zukunft des europäischen Projekts entscheidend prägen könnten: Wird Polen weiterhin seinen antidemokratischen Kurs verfolgen, der die Werte der EU völlig zu unterminieren droht? Wird Italien einen neuen Pfad wählen, der die so dringend notwendigen Reformen erlaubt oder wird Italien eine rechtsextreme Regierung wählen und dadurch ein Erdbeben auslösen, gegen das der Einzug der AfD in den Bundestag nur ein Zittern gewesen wäre?
Und dann gibt es da noch Frankreich. Die Deutschen sind grundsätzlich optimistisch gegenüber Macron eingestellt. Aber sie stehen vor einem Dilemma: Wenn Macrons Versuch, die innenpolitischen Strukturen Frankreichs zu erneuern, erfolglos ist, dann wird Frankreich das europäische Projekt verlangsamen - und die Dämonen der politischen Rechten werden erneut erstarken. Sollte er jedoch Erfolg haben, dann wird er darauf bestehen, dass seine Reformagenda für Europa ernst genommen wird. Seine Vorschläge für eine tiefer integrierte Eurozone sind aber keineswegs von allen gewünscht - jedenfalls was die Deutschen angeht. Im Großen und Ganzen gibt es viele Risiken, Herausforderungen und Schwierigkeiten - für Europa im Allgemeinen und für Deutschland im Speziellen. Wird das europäische Projekt überleben? Ja, bestimmt. Wird es weiter Fortschritte machen auf dem Weg zu einer tieferen Integration? Aller Wahrscheinlichkeit nach: ja. Ob der Ausstieg Britanniens aus der EU es aber tatsächlich leichter macht, das europäische Projekt auf einer soliden Basis weiterzuentwickeln - daran habe ich meine Zweifel.
Angesichts der Gefahren und Herausforderungen, denen Europa gegenüber steht, ist eines klar: wir müssen eine sehr enge Partnerschaft zwischen Großbritannien und der EU pflegen. Für Großbritannien bedeutet dies, seine unausweichliche Verstrickung in der europäischen Geschichte sowie die gemeinsamen geopolitischen Interessen zu akzeptieren. Für Deutschland heißt das, dass es gibt keine Alternative gibt, als die Bürde ihrer führenden Rolle anzunehmen."