Argentinien
Der Januskopf des Javier Milei
Am 19. November 2023, also vor knapp einem Jahr, gewann der bekennende Anarcho-Kapitalist Javier Milei die Präsidentschaftswahl in Argentinien. Wenige Wochen später wurde er Präsident. Seither regiert er mit harter Hand. Die stabilitätspolitische Zwischenbilanz ist schwer zu interpretieren. Wir versuchen es in aller Kürze.
Um es vorwegzunehmen: Man muss Javier Milei mit seinem rechtspopulistischen Gehabe und großspurigen Sprüchen nicht mögen. Gerade überzeugte Liberale wie wir sind irritiert über die gesellschaftspolitisch reaktionären Vorstellungen, die er pflegt, und befremdet von dem außenpolitischen Porzellan, das er schon zerschlagen hat - etwa bei seinem Auftritt vor Tausenden jubelnder Anhänger der ultrarechten Partei Vox in Spanien. Gleichwohl: Seine stabilitätspolitische Agenda ist ernst zu nehmen. Er will – erstmals seit Jahrzehnten – Argentinien zurück in die ökonomische Prosperität als Teil einer integrierten Weltwirtschaft führen. Er will eine funktionierende Marktwirtschaft. Er will den protektionistischen planwirtschaftlichen Peronismus beseitigen, der Argentinien extrem heruntergewirtschaftet und sein großes wirtschaftliches Potential mittels Überregulierung und klientelistischer Umverteilung erstickt hat. Und das ist richtig so.
Schafft er dies? Im Inland hat er beachtliche Erfolge vorzuweisen; und zwar vor allem an drei Fronten: Bekämpfung der Inflation, Rückführung des Haushaltsdefizits sowie Verbesserung der Investitionsbedingungen und des Mietrechts. Eines nach dem anderen:
- Die Inflation ist auf monatlich 3,5 Prozent zurückgegangen. Für eine „normale" Nation irgendwo in den stabilen Weiten der Welt wäre dies ein Desaster an Geldentwertung – immerhin hochgerechnet auf Jahresbasis eine Inflationsrate von gut 50 (!) Prozent. Für Argentinien ist es nach Jahren der Hyperinflation ein gigantischer Erfolg. Es ist seit über zwei Dekaden die schwächste Inflationsentwicklung, die das argentinische Volk erlebt hat. Und vor allem: Der Trend geht seit Mileis Amtsantritt in die richtige Richtung: nach unten. Das stabilisiert auch die Inflationserwartungen, und dies ist ungeheuer wichtig, um Vertrauen in den Märkten zu schaffen.
- Ermöglicht wird dieser Erfolg durch drastisch abnehmende Haushaltsdefizite, ja inzwischen sogar erste -überschüsse, die vor allem dadurch entstehen, dass die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst nur so moderat angepasst werden, dass von "Inflationsausgleich" nicht die Rede sein kann. Folge: Die Realeinkommen sinken massiv. Vorteil: Die Zentralbank muss nicht mehr so stark mit Gelddrucken zur Finanzierung des Staates "einspringen". Die Argentinier nennen dies mit humorvollem Sarkasmus den "Mixer" ("la licuadora"). Ähnlich ist es bei den Transfers an die Provinzen – wir würden vom "Finanzausgleich" sprechen. Diese hinken politisch motiviert drastisch hinter der Geldentwertung her, was stabilitätspolitisch clever, aber verfassungsrechtlich problematisch ist. Zu bedenken ist aber auch, dass die Finanzverfassung des Landes ein gravierendes Strukturproblem aufweist, da sie zu organisierter Verantwortungslosigkeit führt und Haushaltsdisziplin extrem erschwert.
- Argentinien ist ein ressourcenreiches Land, eigentlich ideal für private Investitionen im Energie- und Rohstoffbereich, auch mit Blick auf erneuerbare Energien. In dieser Hinsicht hat die Regierung massive Erleichterungen eingeführt – im Rahmen ihres umfassenden Gesetzespakets, des "Omnibusgesetzes", das in abgespeckter Form den Gesetzgebungsprozess durchlief, obwohl es Milei und seiner Partei an den nötigen eigenen Mehrheiten fehlte. Ähnliches gilt für das vormals absurd restriktive Mietrecht. Es wurde liberalisiert, und siehe da: Ein riesiges, bisher zurückgehaltenes Angebot an Mietwohnungen kam auf den Markt – zum Vorteil der Wohnungssuchenden, aber zum Nachteil der "Altmieter", die nun weit höhere Mieten zahlen müssen, was viele Haushalte mit niedrigen Einkommen trifft.
Fazit: beachtliche stabilitätspolitische Erfolge im Innern, natürlich mit einem ebenso beachtlichen sozialen Preis, der gezahlt werden muss. Ein durchaus mutiges Programm: "work in progress". Ganz anders sieht es außenwirtschaftlich aus. Die argentinische Währung, der Peso, ist weiterhin bei grundsätzlich festem offiziellen Wechselkurs hoffnungslos überbewertet, auch wenn seine Parität zum Dollar monatlich moderat um 2 Prozent angepasst, also abgewertet wird. Die Folge: Die "Lücke" zwischen offiziellem Kurs und Marktkurs nimmt eher zu als ab, die Kapitalverkehrskontrollen bleiben bestehen, die argentinischen Unternehmen können ihre Produkte weiterhin nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten und wichtige Investitionsgüter im Ausland am freien Markt kaufen. Der wichtige Devisenbringer Tourismus schwächelt aufgrund des massiv überbewerteten Peso. Die argentinische Wirtschaft bleibt also "peronistisch isoliert".
Wohlgemerkt: Mit dem Anarcho-Kapitalismus von Javier Milei hat dies ideologisch gar nichts zu tun. Eher schon mit einer Scheu des ansonsten so großspurigen Milei, den Marktkräften die nötige Anpassung zu überlassen, denn dies würde sicherlich einen weiteren – allerdings temporären – Inflationsschub verursachen, der politisch für Milei schlecht aussähe. Man glaubt es nicht, aber an dieser Stelle fehlt ihm der Mut: So viel Marktwirtschaft will er dann doch noch nicht.
Ob das gut geht? Tatsache ist: Je länger dieser Zustand dauert, umso mehr wird sich eine nur zurückgestaute, verdeckte "internationale Inflation" bilden, die irgendwann das Milei-System ins Wanken bringen könnte. Der argentinische Präsident sollte sich die Währungsreformen Deutschlands 1923 und 1948 sowie das erfolgreiche Stabilisierungsprogramm Polens (mit offener temporärer Inflation!) unter Leszek Balcerowicz nach 1990 genau ansehen. Dann würde er erkennen, dass es gerade auch außenwirtschaftlich frühzeitiger liberaler Weichenstellungen bedarf, um die Wirtschaft zu stabilisieren und auf einen Kurs der Prosperität zu führen.
Es reicht eben nicht aus, die Rhetorik des Anarcho-Kapitalismus zu zelebrieren und im Land selbst den "Mixer" sein Werk tun zu lassen. Man muss außenwirtschaftlich die Glaubwürdigkeit des eigenen binnenwirtschaftlichen Programms ratifizieren. Geschieht dies nicht, hängt alles in der Luft – einschließlich der Perspektive von erfolgreichen Umschuldungsverhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, die Mileis Argentinien noch bevorstehen.
Also: Ein erster Anfang ist gemacht, aber noch nicht viel mehr.
Dr. Hans-Dieter Holtzmann leitet die Vertretung der Stiftung in Buenos Aires (Argentinien), Prof. Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung. Beide werden an einer Tagung der Stiftung zur Finanz- und Wirtschaftspolitik von Javier Milei teilnehmen, die am 26. November 2024 in Buenos Aires stattfinden wird. Eine ausführliche Analyse zur Lage in Argentinien von Holtzmann & Paqué wird zu diesem Zeitpunkt folgen.
Weniger Regulierung, niedrigere Mieten? Erfahrungen aus Argentinien
Milei hat Mietpreisregulierungen in Argentinien aufgehoben, was zu inflationsbereinigt sinkenden Neumieten führte. Dieser Effekt deckt sich mit unserem Gutachten, löst jedoch die Probleme am Wohnungsmarkt nicht allein.