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Gesamtverteidigung
Von Kriegstüchtigkeit und gesellschaftlicher Resilienz

Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter fliegen am Tag dre Bundeswehr eine Übung

Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter fliegen am Tag der Bundeswehr eine Übung.

© picture alliance/dpa | Frank Hammerschmidt

Die Bundeswehr braucht mehr Soldaten. Personal, Material, Finanzen – das ist das Trio der Dringlichkeit in der Modernisierung und Aufstellung der Bundeswehr für die Verteidigung Deutschlands und der NATO. Nach monatelangem Hin und Her hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius heute nun seine Pläne für einen neuen Wehrdienst im Bundestag vorgestellt. Im Kern geht es um die zukünftige Erfassung junger Männer (verpflichtend) und Frauen (freiwillig) mit anschließender bedarfsorientierten Musterung. Der Grundwehrdienst von sechs Monaten kann auf dreiundzwanzig Monate Wehrdienst verlängert werden, beides soll erstmal noch auf Freiwilligkeit beruhen. 

Die militärische Komponente ist die eine Seite, die zivile eine andere. Der Wehrdienst beziehungsweise die Wehrpflichtdebatte ist mit der heutigen Verkündung mitnichten vorbei, und gleichzeitig darf die zivile Komponente heutiger Landes- und Bündnisverteidigung nicht untergehen. Gesamtverteidigung ist das Stichwort. Neben der aktiven zivilen Unterstützung im Verteidigungsfall geht es hierbei um nationale Resilienz vor einem direkten militärischen Angriff. Denn: wir befinden uns längst in einem hybriden Krieg.

Hybride Bedrohung, hybrider Krieg

Hybrider Krieg ist die Grauzone zwischen Krieg und Frieden. Die Mittel reichen von physischen Störungen kritischer Infrastruktur, ausländischen Investitionen in kritische Wirtschaftszweige oder Infrastruktur, Industriespionage, Verletzung von Hoheitsgewässern, militärischen Einschüchterungsübungen, Desinformationskampagnen, politische Einflussnahme durch Druck auf lokale Kernprobleme wie beispielsweise durch die Instrumentalisierung von Migration, bis zur Einflussnahme auf Lehrpläne und Wissenschaft — mit einer täglich wachsenden Liste an neuen Maßnahmen, die alle auf die Destabilisierung insbesondere demokratischer Strukturen abzielen. Damit umzugehen ist keine rein staatliche Aufgabe, sondern eine gesamtgesellschaftliche. Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Militär müssen jeweils für sich ihre Verantwortung erkennen und an gemeinsamen Lösungen arbeiten. 

Die Mittel hybrider Kriegsführung wie oben skizziert– Polarisierung durch gezielte Streuung von Desinformation, Störung kritischer Infrastruktur, die Instrumentalisierung von Abhängigkeiten—sind bekannt. Auch das Ziel, die Unterminierung demokratischer Strukturen und damit der strategische Machtausbau autokratischer Regime, wird spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine öffentlich diskutiert. Aber: wer ist verantwortlich für die Stärkung der Resilienz demokratischer Staaten? Für die NATO ist Resilienz gegenüber illegitimer Einflussnahme anderer Akteure wie Russland oder der Volksrepublik China die sogenannte first line of defence, die erste Verteidigungslinie. Die Einflussnahme findet allerdings auf lokaler Ebene statt. Die Zuständigkeit für die Stärkung und den Schutz kritischer Infrastruktur, für die Aufdeckung und Aufklärung von Desinformationskampagnen oder die Förderung zivil-militärischen Austauschs im Bereich ziviler Verteidigung ist damit dezentral und –leider noch– extrem fragmentiert. Während die deutsche Zeitenwende ein Grundverständnis für ein militärisches Bedrohungsszenario, Krieg, geschaffen hat, ist die hybride Bedrohung für viele in Deutschland noch völlig ungreifbar. Geht man von einer Unterscheidung von vier Aktivitätslevel zwischen Frieden und Krieg aus, von 1. Interference (Störung), über 2. Influence (Einflussnahme), 3. Operation (Destabilisierungsoperation) und 4. War/warfare (Krieg/Kriegsführung), befinden wir uns laut Experten in der militärischen Auswertung in Deutschland, in Europa, im „Westen“, bereits seit geraumer Zeit in Level 3 – ohne uns dessen gesamtgesellschaftlich bewusst zu sein.

Strukturen wie das neue Territoriale Führungskommando der Bundeswehr (bald: Operatives Einsatzführungskommando) und der entstehende sogenannte „Operationsplan Deutschland“, der auf zivil-militärische Zusammenarbeit und ziviler Verteidigung aufbaut, sind Maßnahmen, die staatlich –hier durch das Bundesverteidigungsministerium in Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium – getroffen werden. Ein Anfang, der gesamtgesellschaftlich unterstützt werden muss und, der erweitert werden muss um den heutigen Umgang mit hybriden Bedrohungen. Bildungseinrichtungen und Schulen sollten Medientraining und Geopolitik in den Lehrplänen fest verankern. Darüber hinaus können freiwillige Trainingsangebote im Bereich hybride Bedrohungen von diversen zivilgesellschaftlichen Organisationen angeboten werden. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat zum Beispiel begonnen, mit Oberst i.G. Sönke Marahrens vom Hybrid Centre of Excellence Helsinki das Thema hybride Bedrohungen und Resilienz durch sogenanntes Wargaming in ihren politischen Bildungsformaten unterzubringen. Das gelang zuletzt in Zusammenarbeit mit der Zukunftswerkstatt, die in der Konrad-Adenauer-Stiftung stattfand, oder bei einem zweitägigen Wochenendseminar an der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach, bei dem auch Experten und Expertinnen aus Wissenschaft, Journalismus und Wirtschaft beitrugen.

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„Bisher sind wir davon ausgegangen, dass der Staat alleine den Bürger [die Bürgerin] schützen kann, jetzt erleben wir, dass gerade Desinformation in den Bereich Gesellschaft reingeht, wir sehen aber auch Ransomware Attacken im Bereich Industrie, wo der Staat keinen Zugriff mehr hat“, so Sönke Marahrens. Damit sei die Idee der reinen Abschreckung obsolet geworden. Für hybride Bedrohungen, also alles unterhalb der Schwelle militärischer Kriegserklärung, gibt es noch keine Form der Abschreckung. „Das, was uns als liberale Gesellschaft wichtig ist –Meinungsfreiheit, offene Plattformen, wo wir diskutieren können“ sind laut Zoë van Doren, zuständig für Digitalisierung, KI und Innovation für Demokratie bei der Friedrich-Naumann-Stiftung, genau der Einfallsvektor für autokratische Regime. Für Dr. Tim Stuchtey, Direktor des Brandenburgischen Instituts für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS) gilt es, den Umgang mit Widersprüchen neu zu lernen und demokratisch gestärkt auf Polarisierungsversuche insbesondere von außen reagieren zu können. Journalist Thomas Brey hat es sich zur Aufgabe gemacht, vor allem russische Propaganda aufzudecken und Medientrainings an Schulen durchzuführen.

Liberale Demokratien zeichnen sich durch Meinungsfreiheit und gemeinsam verhandelte Regeln für alle Bereiche –Wissenschaft, Industrie, Politik, Zivilgesellschaft, Militär– aus. Die regelbasierte internationale Weltordnung ist der Grundpfeiler liberaler Demokratien. Das Sicherheitsumfeld des 21sten Jahrhunderts, die direkten Angriffe auf die regelbasierte Ordnung durch autokratische Regime ist geprägt durch eine Neuverhandlung der Realität, in der Meinungs- und Faktenfreiheit miteinander vermischt werden. Resilienz, so Marahrens, bedeutet, den ersten Schlag hinnehmen zu müssen und so Schwachstellen sukzessive stärken zu können. Wir in Europa nehmen täglich Schläge hin, und noch viel zu selten wahr. Sich Gewahr werden ist oberste Priorität, dicht gefolgt von effektiver Bekämpfung von hybriden Angriffen. Mit der Vision, gesamtgesellschaftliche Resilienz abschreckend gegenüber Einflussversuchen externer Akteure einsetzen zu können.

Zusammen mit einer umfassend ausgestatteten und aufwuchsfähigen Bundeswehr: Gesamtverteidigung.