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Umstrittener EU-Plan
"Was muss noch passieren, damit das gestoppt wird?"

Chatkontrolle
© picture alliance/KEYSTONE | CHRISTIAN BEUTLER

Die Warnung vor einer mit dem Grundgesetz unvereinbaren Gesetzesinitiative – die geplante akustische Wohnraumüberwachung im Rahmen des sogenannten "Großen Lauschangriffs" – hat mich vor fast zwei Jahrzehnten dazu bewogen, von meinem Amt als Bundesjustizministerin zurückzutreten.

Es gab damals mit mir viele Warner, aber es hat fast zehn Jahre gedauert, bis das Bundesverfassungsgericht diesen tiefen Eingriff in die Privatsphäre unbescholtener Bürger gestoppt und uns Warnern recht gegeben hat.

Aktuell haben über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus namhaften Forschungseinrichtungen weltweit eine Petition gegen den geplanten Entwurf der EU-Kommission zur Chatkontrolle unterschrieben. Nicht nur hier, auch in Australien, Südkorea und den USA sind die Stimmen namhafter Kritiker laut und sehr deutlich zu hören.

Unverhältnismäßige Massenüberwachung

Die Petition reiht sich in die lange Liste der Bemühungen ein, ein Projekt aufzuhalten, das jenseits jeder Verhältnismäßigkeit – wie damals – die massenhafte Überwachung unbescholtener Bürger möglich machen kann. Gutachten des Rates und des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments konstatierten die Unvereinbarkeit mit der europäischen Grundrechtecharta.

Mehrere europäische Justizminister – darunter der deutsche Justizminister Marco Buschmann – stellten in einem offenen Brief im Mai Verfassungsmäßigkeit und Wirksamkeit des Vorhabens infrage. Über 30 Parlamentarier der Parlamentarischen Vereinigung des Europarats sprachen sich wegen befürchteter massiver Grundrechtseingriffe gegen die Pläne aus.

"Was muss noch passieren, damit die Chatkontrolle endlich gestoppt wird?"

Zu den zahlreichen warnenden Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft gesellen sich inzwischen auch Stimmen direkt aus den Sicherheitsbehörden. Wenn die Warnung so eindeutig klingt und aus so vielen unterschiedlichen Ländern und Bereichen kommt, steht man nach dem irischen Schriftsteller Jonathan Swift klüger da, einen Fehler einfach einzugestehen.

Was muss noch passieren, damit die Chatkontrolle endlich gestoppt wird?

Die Idee hinter dem Entwurf ist zwar wichtig: sexueller Kindesmissbrauch und Abbildungen dieser furchtbaren Taten im Internet sollen bekämpft werden. Die Verordnung in ihrer jetzigen Form ist aber eindeutig rechtswidrig. Denn die Antwort der Kommission auf das – zweifelsohne schwerwiegende – Problem soll eine massenhafte und weitestgehend anlasslose Überwachung und Speicherung der Kommunikation im digitalen Raum sein.

Nicht nur unverschlüsselte Daten der Nutzenden digitaler Dienste im Internet sollen gescannt werden können. Die Anbieter sollen sogar verpflichtet werden, verschlüsselte Kommunikation zu überwachen und auf Missbrauchsdarstellungen zu untersuchen – technisch wäre dies nicht ohne die Installation einer Überwachungssoftware zu bewerkstelligen.

Eine so weitreichende Überwachung der Kommunikation ist ein eklatanter Eingriff in die Bürgerrechte eines jeden Einzelnen. Sicherheit, Datenschutz und Privatsphäre im digitalen Raum würde erheblicher Schaden zugefügt werden, weil selbst Verschlüsselung nichts mehr wert wäre. Dabei ist sie das effektivste Mittel, um diese Grundrechte zu schützen – zu diesen Ergebnissen kommt auch ein neues Gutachten der Friedrich-Naumann-Stiftung zum Thema Recht auf Verschlüsselung.

Die Chatkontrolle muss gestoppt werden. Durch eine Flut von (Falsch-)Meldungen überforderte Sicherheitsbehörden und von weitreichender Überwachung verunsicherte Bürgerinnen und Bürger tragen nichts zum dringend nötigen Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch bei.

Dieser Artikel erschien erstmals am 12. Juli 2023 auf t-online.