Tag des Vorlesens
Wer nicht vorliest, hat das Nachsehen
Dass man sowohl Weintrauben als auch Bücher lesen kann, ist kein Zufall. In der ursprünglichen Wortbedeutung meint das deutsche „lesen“ ebenso wie das lateinische „legere“ die Handlung des Auf- und Einsammelns. Der bundesweite Vorlesetag, der dieses Jahr auf den 18. November fällt, befasst sich dagegen ausschließlich mit Wörtern statt mit Wein. Angesichts der frühkindlichen Zielgruppe dieses Tags ist dies sicherlich ratsam. Die Etymologie verrät allerdings, warum das Lesen und Vorlesen so zentrale Kulturtechniken sind. Das in Texten enthaltene Wissen zu sammeln, auszuwählen und zu ernten ist eine zentrale Kompetenz, um geistige Schätze – neudeutsch Humankapital – aufzubauen. Kaum eine andere Bildungsinvestition bietet daher in den ersten Lebensjahren eine vergleichbare Rendite wie das Vorlesen. Die Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher wie Britta Juska-Bacher sind sich weitestgehend einig darin, dass „familiale buchbezogene Interaktionen“, unter die freilich nicht einfach nur das monologische Ablesen von Text fällt, einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung „leserelevanter Kompetenzen“ hat. Es ist daher auch eine Frage der Bildungsgerechtigkeit, wie verbreitet das Vorlesen als Praxis in Familien und Kindertagesstätten ist. Wie der in der letzten Woche veröffentlichte Vorlesemonitor der Stiftung Lesen, der Zeit und der Deutschen Bahn Stiftung zeigt, besteht hier durchaus Grund zur Sorge.
In 39 Prozent der Familien wird selten oder nie vorgelesen
Der Vorlesemonitor ist der Nachfolger der Vorlesestudie, die bereits seit 2007 das bundesweite Leseverhalten von Kindern untersucht hat. In diesem Jahr wurden 839 Mütter und Väter von Kindern im Alter von einem bis acht Jahren zu ihrem Vorleseverhalten befragt. Bei 39 Prozent der Familien, so eine der zentralen Befunde der Studie, werde selten oder nie vorgelesen, dementsprechend lesen aber immerhin 61 Prozent der Eltern mindestens mehrmals pro Woche vor. Gegenüber 2019 hat sich die Spaltung allerdings etwas verschärft: sowohl der Anteil derjenigen, die „mehrmals pro Tag“ vorlesen als auch der Anteil derjenigen, die „nie“ vorlesen, ist erheblich gestiegen. Auffallend ist auch, dass sich das Vorlesen vor allem auf die Altersklasse zwischen 2 und 5 Jahren konzentriert, obwohl der positive Effekt des Vorlesens auch für jüngere und ältere Kinder nachgewiesen ist. Entgegen möglicher Erwartung spielt das Geschlecht übrigens weder bei den Vorlesenden noch bei den Zuhörenden eine wesentliche Rolle. Auch die Zuwanderungsgeschichte hat keinen großen Effekt, auch wenn in Familien ohne Zuwanderungsgeschichte tendenziell etwas mehr vorgelesen wird. Gravierende Auswirkungen hat dagegen der formale Bildungsgrad der Eltern, wobei hier Eltern ohne Zuwanderungsgeschichte und mit formal geringerer Bildung tatsächlich das Schlusslicht bildet. Immerhin: Vorleseerfahrungen in der eigenen Kindheit konnten dieses Effekt etwas schmälern.
Kinderbücher und Bildungsgerechtigkeit
Lesen und vorlesen sind keine rein geistigen Aktivitäten, sondern haben klare materialen Voraussetzungen. Auch wenn Druckerschwärze manchmal durch LED-Kristalle ersetzt wird, so lässt sich das Lesen nicht vom Medium trennen. In der Vorlesestudie wurden daher sowohl die Zahl der Kinderbücher als auch ergänzende – und nur selten substituierende – digitale Apps und Programme in den Blick genommen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern regelmäßig vorlesen, steigt mit der Präsenz von Büchern im Haushalt“, so die Autorinnen und Autoren der Studie, aber „in 44 % der Familien gibt es maximal 10 Kinderbücher.“ Der wichtigste Ratschlag der Studie, abgesehen von einer allgemeinen Forderung, das Vorlesen zu stärken, ist daher auch, den Zugang zu Kinderbüchern zu verbessern. Beachtenswert sind außerdem die Einblicke in die Nutzung digitaler Medien: Es wird deutlich, dass es sich hier keinesfalls um eine reine Konkurrenz handelt, sondern digitales und analoges Lesen und Vorlesen durchaus ergänzend wirken können.
„Regelmäßiges Vorlesen ist nicht nur förderlich für die späteren Sprach- und Lesekompetenzen, sondern auch für die Fantasie und stärkt zudem die Eltern-Kind-Beziehung“, erklärte Jens Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, anlässlich der Veröffentlichung des Vorlesemonitors. Dies ist eine gute Erinnerung, dass es sich beim Vorlesen keineswegs nur um eine Vorstufe zum selbstständigen Lesen handelt, sondern um eine eigene Kulturtechnik, die ihren eigenen Platz verdient hat. „In der Schule lernen wir häufig nur die Buchstaben kennen“, so wusste es bereits Luise Büchner vor über 150 Jahren, aber „in der Familie sollten wir mit Geschmack lesen und vorlesen lernen, wie wir es überhaupt eigentlich nur dort erringen können, das, was der Unterricht uns gab, mit Geschmack und Grazie auf Leben anzuwenden.“
Was man lesen kann: einige Empfehlungen zur ökonomischen Bildung
Auch vorgelesene Bücher sollten erlesen sein. Wer daher noch auf der Suche nach geeigneten Büchern für jüngere (und ältere) Leserinnen und Leser ist, der sollte einen Blick auf die Studie zu „Ökonomischen Inhalten in Kinder- und Jugendbüchern“ werfen, die die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im vergangenen Jahr veröffentlicht hat. Ob Klassiker wie „David Copperfield“ oder Belletristik mit explizitem Bildungsanspruch: die Auswahl an lehrreichen Büchern ist so groß wie nie. Entscheidend ist aber dabei, dass das Lesen und Vorlesen nicht als isolierte Aktivität begriffen wird, sondern in soziale Interaktion eingebettet ist. Auswahl und Diskussion, Nacherzählen und Reflektieren sind mindestens ebenso wichtige Aspekte des Vorlesens wie das Umblättern. Und natürlich gilt für erlesene Bildung das gleiche wie für erlesenen Wein: Man braucht Zeit; aber wer nicht vorliest, hat später das Nachsehen.