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China Bulletin
Wir brauchen einen klaren Blick auf China

guard outside the Mausoleum of Mao Zedong
© picture alliance/dpa | Artyom Ivanov

China wird in der westlichen Welt heute zumeist als normativer Gegenpol zu den westlichen Demokratien, zunehmend als Systemkonkurrent und immer weniger als Partner verstanden. Nationalistische Propaganda, territoriale Bestrebungen und normative Kontrolle sind heute das Markenzeichen der Kommunistischen Partei. Intransparenz schafft Spekulationsspielräume, an denen die westlichen Demokratien sich abarbeiten. Um die chinesische Politik wirklich nachvollziehen zu können, genügt es nicht, sich nur realpolitisch mit China auseinanderzusetzen. Wir müssen den tragenden Charakter der Ideologie und ihr Ziel begreifen. Dabei ist wichtig, zu verstehen, dass die Politik der Kommunistischen Partei die ganze Zeit ideologisch war – wir haben es nur nicht so deutlich wahrgenommen.

Mit Xi Jinping, der beim kommenden Parteitag der Kommunistischen Partei am 16. Oktober aller Voraussicht nach seine dritte Amtszeit sichern wird, steht nun nach Mao wieder jemand an der Spitze der Kommunistischen Partei, der sich selbst als ideologischer Vordenker der nationalen Identität versteht. Erstmalig seit Mao ist mit Xi wieder eine ideologische Identifikationsfigur nicht nur mit der Staatsführung, sondern auch mit der Vorgabe politischen Weltwissens verknüpft. Das „Denken Xi Jinpings“ ist Teil des Pflichtkurrikulums der Partei und des chinesischen Bildungssystems. Der Kanon ist auch bereits in der Parteiverfassung (Achtung: nicht in der Verfassung der Volksrepublik!) verankert. Durch das zunehmende Wiedereingreifen der Partei in die Wirtschaft wird dieser Kanon auch Teil der Arbeitswelt. Das „Denken Xi Jinpings“ soll somit nach und nach zur begrifflichen Grundlage des Nachdenkens über Politik, Gesellschaft, Moral und die Rolle Chinas in der Welt werden. Der wachsende Einfluss entsprechend geschulter Parteimitglieder in relevanten Schlüsselpositionen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sowie die Omnipräsenz der Partei in den chinesischen sozialen Medien unterstützt diese Entwicklung. Das breitgefächerte und beliebte Angebot der Partei an gemeinschaftsstiftenden Aktivitäten und nützlichen Services auf lokaler Ebene erhöht die Reichweite dieser Ideologie zusätzlich. 

„Rückfall“ in die Geschichte?

Es ist Vorsicht bei der Annahme geboten, bei der Ideologie unter Xi handele es sich um einen „Rückfall in die Mao-Zeit“. Es stimmt, dass die chinesische Regierung unter Xi Jinping bewusst mit politischer Rhetorik arbeitet, die an die Propaganda der Mao-Zeit anknüpft. Auch nimmt die ideologische Kontrolle zu. Aber im Kern verfolgt das „Denken Xi Jinpings" andere Ziele als das „Denken Mao Zedongs“: Es will natürlich Xi als ideologische Identifikationsfigur zementieren und die Rolle der Partei als Trägerin identitätsstiftender Strukturen stärken. Aber vor allem will es kohärenter und konsequenter sein, und damit eine für China nachhaltigere Auslegung des Sozialismus vertreten. Dieser so genannte „Sozialismus chinesischer Prägung“ hat mit der klassischen Auslegungen des Marxismus nicht mehr viel zu tun. Dies hält die chinesische Führung aber nicht davon ab, die Begriffe „Sozialismus“ sowie „Marxismus/ Marxismus-Leninismus“ weiterhin zu verwenden und deren Weiterentwicklung zu proklamieren. Auch Mao hatte das schon so gemacht. Reminiszenzen an die Mao-Zeit haben daher ihre Berechtigung. Die Regierung Xi will aber mitnichten die Geschichte wiederholen. Vielmehr haben wir es mit einem bewussten Prozess zu tun, der die ideologische Schwächen der Vergangenheit überwinden soll.

Ideologie versus wirtschaftliche Performance

Vor der Machtübernahme Xi Jinpings mag die Ideologie zwischenzeitlich etwas in den Hintergrund gerückt sein; sie war aber stets da. Ihr Einsatz hängt historisch eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zusammen: Während des 20. Jahrhundert nahm die ideologische Propaganda ab, wann immer wirtschaftliche Reformen im politischen Fokus standen, und nahm wieder zu, wenn die nationale wirtschaftliche Performance schwächelte. Nach einer langen Phase des Aufschwungs und einer immer pragmatischeren, wirtschaftsorientierten Politik - insbesondere unter Hu Jintao während der 2000er Jahre - hat China nun den Gipfelpunkt seines Wachstumshöhenflugs überschritten.

Der Kampf um Stabilität für die neu entstandene Mittelschicht sowie gegen die immer noch viel zu große Ungleichheit zwischen unterschiedlich weit entwickelten Regionen wird härter. Die Kommunistische Partei, das einzige politische Trägerorgan, schultert die gesamte Verantwortung und muss für Ausgleich sorgen, um ihren alleinigen Machtanspruch weiterhin zu rechtfertigen. Eine überproportionale Zunahme wirtschaftlicher Herausforderungen, die auch über längere Zeit nicht zentral gelöst werden können, gefährden die gesamtgesellschaftliche Stabilität. Die Regierung Xi wirkt dem entgegen durch einen verstärkten Einsatz ideologischer Instrumente. Es ist ein Vorteil ideologischer Leitlinien, dass sie nach allen Seiten hin Geschlossenheit und Einheit suggerieren: gegenüber der eigenen Bevölkerung, eigenen politischen Struktur, des Staatsapparats sowie nach außen hin.

Eigene Deutungshoheit: Wenn die KP von Demokratie spricht

Zensur trägt dazu bei, ideologisches Denken festzuschreiben. Sprache spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Für Außenstehende wird es komplex und gar verwirrend, wenn ideologische Schlagworte genutzt werden, die mit der tatsächlichen politischen Praxis im krassen Widerspruch zu stehen scheinen. Man denke etwa an die im „Denken Xi Jinpings“ enthaltenen Leitlinien zur politischen Gesinnungsethik für Partei und Bevölkerung, die neben „Stärke“, „Patriotismus“ und „politischer Hingabe“ etwa auch die Begriffe „Freiheit“, „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“ enthalten. Hier macht die Partei deutlich, dass letztlich sie allein die Auslegungshoheit über die eigene Begriffswelt hält. Damit macht sie sich unabhängig von der historischen Auslegungspraxis dieser Begriffe. Vor allem grenzt sie sich ab von der im Westen üblichen „Auslegung“ derselben Begriffe.

Zentral ist hierbei die Behauptung, dass diese Begriffe überhaupt „auslegbar“ seien. So beansprucht die Kommunistische Partei, gern mit Verweis auf angebliche sozio-kulturelle Unterschiede, schlichtweg eine „andere“ Definition dieser Begriffe zu haben. Sie sieht sich nicht verpflichtet, ihre eigenen Begriffsdefinitionen im internationalen Diskurs begründen zu müssen. Aus Sicht der chinesischen Führung beansprucht der Westen zu Unrecht die Deutungshoheit über diese Begriffe.

Umgang mit Chinas Ideologisierung in Europa

Aus der historischen Erfahrung des Kalten Kriegs wissen wir, dass eine Systemgegnerschaft hochpsychologisch ist. Beide Seiten sind ideologisch, wenn auch vielleicht mit unterschiedlichem Nachdruck. Die Ideologie fungiert als dynamischer Träger politischer Zielvorgaben, als Instrument der Identifikation mit dem eigenen politischen System und zur Abgrenzung vom „Anderen“. Ideologie soll auch starke Emotionen kanalisieren. In Europa müssen wir uns bewusst sein, dass auch unsere eigene Wahrnehmung der Ideologisierung in China mittlerweile psychologisch hochaufgeladen ist. Unsere Wahrnehmung der inneren politische Entwicklung Chinas hat sich spätestens seit der Aufdeckung der massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Xinjiang sowie der vorzeitigen Übernahme politischer Kontrolle in Hongkong verändert.

Bei allen Warnzeichen der systemischen Konkurrenz ist es daher wichtig, einen klaren Blick auf China zu behalten und Partnerschaftlichkeit nicht auch dort auszuschließen, wo sie möglich und angebracht ist. Der klare Blick auf China könnte in der näheren Zukunft eine der wichtigsten Ressourcen sein, die wir haben. Dafür ist ein genaues Verständnis davon, wie das Land sich im Inneren entwickelt und welche Kräfte seine Gesellschaft antreiben, unabdingbar.

*Dr. Nele Fabian ist European Affairs Managerin im Regionalbüro Europäischer Dialog der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel. Sie ist Sinologin und Politikwissenschaftlerin. Ihre Promotion im Fach Moderne Geschichte Chinas mit Schwerpunkt Umweltpolitik und Nachhaltigkeitsdenken im China des 20. Jahrhunderts hat sie an der Ruhr-Universität Bochum abgeschlossen.