EN

Türkei
„Einzigartiger mentaler Wandel“ – Eine Meinungsumfrage stellt tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in Bezug auf Gewalt gegen Frauen fest

Istanbul-Konvention
Menschen versammelten sich im Istanbuler Stadtteil Kadiköy, um gegen Gewalt gegen Frauen und die Aufkündigung der sogenannten Istanbul-Konvention zu demonstrieren. © picture alliance/dpa | Anne Pollmann  

Für die Medien ist die hohe Zahl der tödlichen Gewalt gegen Frauen ein schlagzeilenträchtiges Thema. Während die Verbrechen in allen Teilen der Gesellschaft und von allen politischen Lagern verurteilt werden, sind die Schlussfolgerungen alles andere als einheitlich. So brachte Präsident Erdogan erst kürzlich einen Austritt aus dem „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ - kurz: „Istanbul Konvention“ - ins Spiel. Die Opposition und insbesondere Frauenverbände widersprechen diesem Ansinnen massiv und fordern eine verstärkte Anwendung der 2014 in Kraft getretenen Konvention. Diese verlangt, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter in den Gesetzen forciert, Diskriminierungen abgebaut und Maßnahmen zum Schutz von Frauen getroffen werden sollen. Nicht nur Feministinnen weisen darauf hin, dass die Türkei der erste Staat war, der die Konvention unterzeichnet hat.

Die regierungsnahe Zeitung „Yeni Akit“ diskutiert die Istanbul Konvention in zahlreichen Beiträgen und stellt sie mal als „imperialistisch“, mal als „pervers“ dar. Das Blatt behauptet ferner, die internationale Konvention sei ohne Berücksichtigung der türkischen Sozialstruktur formuliert worden und würde die Gewalt gegen Frauen überhaupt erst bestärken.

Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstitut KONDA kommt zu dem Ergebnis, dass nur etwa sieben Prozent der türkischen Bevölkerung einen Austritt aus der Istanbul Konvention begrüßen (36 % wollen verbleiben, 57 % haben keine Meinung dazu). Dabei fällt auf, dass eine Mehrheit der Bevölkerung (62%) den Inhalt dieses europäischen Vertrags gar nicht kennt. Die Studie gibt an, wie Zustimmung und Ablehnung unter denen verteilt ist, die sich mit dem Inhalt befasst haben: Hier treffen 84 % Zustimmung auf 16 % Ablehnung der Konvention.

Die Ergebnisse der demoskopischen Studie stoßen in den oppositionellen Medien auf eine positive Resonanz. Die Tageszeitung „BirGün“ nennt es eine positive Überraschung, dass die Zahl derer, die glauben, Ehrverletzung sei eine Rechtfertigung für Verbrechen, innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre von 45 % auf 21 % gefallen sei. Ferner hätten „noch vor fünf Jahren 80 % gesagt, dass Frauen sich züchtig kleiden sollten, um sich vor sexuelle Angriffen zu schützen, während heute nur noch 32 % der Bevölkerung“ dieser Ansicht seien. Die Verfasserinnen der Studie sprechen angesichts dieser Zahlen von einem „klaren und einzigartigen mentalen Wandel“ in der türkischen Gesellschaft.

Im Gegensatz zu „BirGün“ verzichten einige Regierungsblätter wie „Yeni Şafak“ und „Sabah“ vollständig auf eine Erwähnung der KONDA-Studie. Die englischsprachige „Daily Sabah“ widmet ihr einen Artikel und geht auf die Erkenntnisse zum gesellschaftlichen Wandel ein: „Die Meinungsforscher konnten in dieser Studie im Vergleich zu den Umfrageergebnissen von 2015 und 2010 einen erheblichen Rückgang in der Zahl der Befürworter von häuslicher Gewalt feststellen.“

Die regierungsnahe Zeitung „Yeni Akit“ fährt eine andere Strategie. Sie erwähnt zwar die Ergebnisse der Studie bezüglich der „Istanbul Konvention“, zweifelt aber die Glaubwürdigkeit von KONDA an: „KONDA hat sich bereits zuvor in fast allen Wahlumfragen geirrt. Während bei dieser Umfrage noch nicht einmal erkennbar ist, wer hier wie befragt wurde, hat sich die linke Presse gleich zu Propagandazwecken auf sie gestürzt.“