Impulse für Europa
Atomkraft? Oui merci!
Der französische Staatssekretär für europäische Angelegenheiten, Clément Beaune, erinnerte kürzlich im Magazin „Der Spiegel“ an die Unverzichtbarkeit des „deutsch-französischen Tandems“. Seit Jahrzehnten ist dies ein unumstößliches Prinzip der europäischen Integrationspolitik: Ohne Verständigung zwischen Paris und Berlin gibt es keine Rettung! Die Verabschiedung des europäischen Konjunkturpakets „NextGenerationEU“ im Juli 2020 hat dies eindrucksvoll bewiesen. Auch die Verwirklichung des europäischen Green Deal wird dieser impliziten Regel nicht entgehen. Hier eine Einigung herbeizuführen, wird freilich keine leichte Aufgabe sein. Denn mit Blick auf die Umwelt- und Energiepolitik ticken die Uhren in Frankreich und Deutschland vollkommen anders.
So räumt die französische Regierung der Modernisierung der nationalen Atomkraftwerke Vorrang ein. Das hat sie zuletzt Anfang Oktober im Rahmen des Investitionsplans „France 2030“ bekräftigt, mit Unterstützung der wichtigsten politischen Parteien. In Deutschland hingegen steht der 2011 beschlossene Ausstieg aus der Atomenergie unmittelbar bevor. Der Koalitionsvertrag unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ bekräftigt dies: „Am deutschen Atomausstieg halten wir fest.“ Der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung beträgt heute im globalen Durchschnitt 10 Prozent, und in Deutschland sind es 12,5 Prozent – doch in Frankreich liegt er bei stattlichen 70 Prozent. Der für 2021 geplante Kohleausstieg, ein Wahlkampfversprechen von Emmanuel Macron aus dem Jahr 2017, wird auf die Zeit nach 2022 verschoben. In Deutschland hingegen sieht der Koalitionsvertrag nunmehr vor, die Schließung der Kohlekraftwerke von 2038 auf 2030 vorzuziehen.
Der Kontrast zwischen den beiden Ländern wird auch deutlich, wenn man sich die Bemühungen Deutschlands seit dem Beschluss zum Atomausstieg ansieht, den Anteil der erneuerbaren Energien auf mehr als 50 Prozent zu steigern. Die neue Bundesregierung hat das Ziel formuliert, den Anteil der erneuerbaren Energien bis 2030 auf 80 Prozent zu erhöhen. Auch wenn der Anteil der Erneuerbaren am Energiemix Frankreichs in den zurückliegenden Jahrzehnten stark gestiegen ist, sind die dortigen Ambitionen im Vergleich dazu ausgesprochen bescheiden. Das im Sommer 2021 verabschiedete Gesetz „Loi Climat et Résilience“ wird Frankreich, das 2020 noch bei 20 Prozent lag, wohl kaum in die Lage versetzen, das bis 2030 vorgeschriebene europäische Ziel von 55 Prozent zu erreichen.
Die Wasserstoffstrategie und Taxonomie
Auf beiden Seiten des Rheins teilt man zwar die Feststellung, dass es rascherer Anstrengungen bedarf, um die ehrgeizigen internationalen Ziele zu erreichen. Dass es trotzdem nicht einfach ist, gemeinsame Maßnahmen zu verabschieden, liegt daran, dass die Entscheidungsfindung in den beiden Ländern auf anderen Paradigmen beruht und dass es jeweils andere Ziele zu erreichen gilt.
Der deutsche Koalitionsvertrag stellt die Unterstützung für das Paket der Europäischen Kommission „Fit for 55“, das eine Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen um 55 Prozent bis 2030 vorsieht, nicht infrage. Die französische Regierung unterstützt das Paket ebenfalls, hat jedoch einige Vorbehalte. Diese beziehen sich insbesondere auf die Neugestaltung und Ausweitung des Emissionshandelssystems (ETS). Paris betrachtet dieses Thema zwar als Priorität, bleibt aber wegen der möglichen Auswirkungen auf die betroffenen Wirtschaftszweige vorsichtig.
Das heikle Thema der kommenden Monate wird jedoch ohne Zweifel die künftige Rolle der Kernenergie sein. Seit dem Sommer setzt sich die Regierung in Paris für einen Platz der Kernenergie im Register sauberer Energien ein. Gemäß dem 30 Milliarden Euro schweren Indus-
trialisierungsplan „France 2030“ soll sie auch die Wasserstoffproduktion auf nationaler Ebene befördern. Im Übrigen wird in Frankreich in jüngster Zeit zunehmend Kritik an dem Vorhaben laut, Gas und Kernenergie in der europäischen Taxonomie als „Brückentechnologien“ einzuordnen. Die neue Regierung in Berlin indes empfiehlt, „dass die Atomenergie für die von ihr verursachten Kosten selbst aufkommt“, und fordert eine „Europäische Union für grünen Wasserstoff“: Damit erteilt die neue Regierung in Berlin den französischen Vorhaben eine freundliche, aber klare Absage.
Der Vorschlag eines CO2-Grenzausgleichs, der zwischen 2026 und 2036 zunehmend Wirksamkeit entfalten soll, zielt darauf, in den Wirtschaftszweigen mit dem höchsten Schadstoffausstoß (Stahl, Strom, Zement, Düngemittel, Aluminium) Importe aus Drittländern mit geringeren Umweltstandards zu verteuern. Es war Macron, der dieses Instrument, für das sich seinerzeit schon Jacques Chirac eingesetzt hatte, wieder auf den Tisch gebracht hat. Die deutschen Regierungen schauen seit jeher mit großen Vorbehalten darauf. Sie fürchten, die Handelspartner Europas könnten darin einen zunehmenden Protektionismus erkennen. Besonders die deutsche Industrie, stärker exportorientiert als die französische, lehnt das Vorhaben ab. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass man sich im Koalitionsvertrag auf die vage Formulierung beschränkt, „Carbon Leakage“ verhindern zu wollen. Für die französische Regierung, die das Thema unter der EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 vorantreiben will, sind die Dinge ohne deutsche Unterstützung schlecht bestellt.
Kommt ein Kuhhandel zwischen Paris und Berlin infrage?
Der Erfolg der europäischen Integrationspolitik beruht nach wie vor auf der Kunst des Kompromisses, derer jegliches politische Handeln bedarf. Doch es ist fraglich, ob es Paris und Berlin gelingen wird, in all diesen Themenbereichen eine gemeinsame Basis zu finden. Es sei denn, man zieht einen größeren Kuhhandel von der Art in Betracht, wie ihn ein Diplomat kürzlich der Zeitung „Le Monde“ anvertraute: Paris lässt Berlin das ETS für Verkehr und Gebäude, und Berlin nimmt den CO2-Grenzausgleich hin.
Julien Thorel ist Direktor des Think Tanks Centre de Politique Européenne in Paris.