Europa
Neue Weichenstellung in Brüssel: Von der geopolitischen zur Investitionskommission
Mit dem offiziellen Start der Europäischen Kommission beginnt diese Woche in Brüssel eine neue institutionelle Ära. Nach langwierigen Verhandlungen und einem hochpolitisierten Prozess, der mit den Europawahlen im Juni begann, kann das Team von Ursula von der Leyen (VDL) noch im Dezember seine Arbeit aufnehmen. Der sechsmonatige politische Stillstand ist somit zu einem Ende gekommen.
Neue Realitäten: Europas Herausforderungen 2024
Im Jahr 2024 steht die EU vor anderen innen- und geopolitischen Herausforderungen als noch zu Beginn der letzten Legislaturperiode. Eine stagnierende Wirtschaft, Zugewinne für rechtsextreme und populistische Bewegungen, der anhaltende Krieg in der Ukraine und die Gewalteskalation im Nahen Osten, ebenso wie erwartbare Veränderungen in den transatlantischen Beziehungen und ungelöste Handelskonflikte mit China, sind heute Europas neue Realität. Diese neuen Herausforderungen und Krisen haben nicht nur die politische Landschaft verändert, sondern auch die jüngste Prioritätensetzung der EU maßgeblich geprägt. Seither werden in Brüssel neue politische Prioritäten vorgestellt und diskutiert. Breits die politischen Leitlinien für die neue Kommission und die neue strategische Agenda des Europäischen Rates für 2024-2029 gaben erste Einblicke in Themen, die in den nächsten fünf Jahren für die EU relevant sein werden: Wohlstand, Sicherheit, Demokratie sowie Wettbewerbsfähigkeit und strategische Autonomie der EU. Die Bekanntgabe der neuen Aufgabenverteilung der VDL-Kommission am 17. September offenbarte schließlich konkrete Informationen zu den genauen Prioritäten des College of Commisioners und Kernaufgaben unter den jeweiligen Portfolios.
Von Geopolitik zu Wirtschaftsfokus: Die neue Ausrichtung der EU Kommission
Vor fünf Jahren präsentierte VDL ihre Vision einer geopolitische Kommission. Die Betonung der geopolitischen Dimension als Leitprinzip für das Handeln der EU wurde damals als relative Neuheit wahrgenommen. Unter dieser geopolitischen Kommission (2019-2024) wurde der Schwerpunkt auf Initiativen wie Global Gateway und den Europäischen Green Deal sowie die engere Verzahnung von externer und interner Politik gelegt. Heute, in einer Zeit zunehmender geopolitischer Unsicherheiten und Rivalitäten, setzt VDL in ihrer neuen Kommission diesen Kurs fort, lenkt jedoch den strategischen Fokus verstärkt auf die globale wirtschaftliche Positionierung der EU sowie die Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Dabei legt sie großen Wert auf Führungsstärke und Investitionen in die Durchsetzungsfähigkeit der EU in der Welt. Gleichzeitig rückt europäische Sicherheitspolitik zunehmend in den Fokus und geostrategische Interessen werden intensiver verfolgt. Klare Worte über das neue Kommissionsprogramm fand VDL auch in ihrer jüngsten Rede vor dem Plenum des Europäischen Parlament (EP) als sie erklärte die EU brauche nun „massive Investitionen in unsere Sicherheit und unseren Wohlstand (…). Dies wird eine Investitionskommission sein müssen.“
Politische und strategische Veränderungen unter von der Leyen 2.0
Nicht nur die Kommission, auch die strategische Agenda des Rates signalisiert eine ähnlich deutliche Verschiebung der politischen Prioritäten der EU-Mitgliedstaaten. Themen wie Verteidigung, Sicherheit, Migration und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit dominieren die Agenda. Die EU-Klimapolitik hingegen verliert zunehmend an Bedeutung und der Green Deal findet in der strategischen Agenda des Rats keinerlei Erwähnung. Während Klimaschutz und Umweltfragen auch in der neuen Kommission nicht mehr so prominent im Fokus stehen wie im letzten Mandat, bleiben sie dennoch zentral und werden in andere Politikbereiche integriert – etwa im Rahmen des von VDL angekündigten Clean Industrial Deal. Die vorherigen Prioritäten in den Bereichen Energie, Klima und Schutz natürlicher Ressourcen werden ebenfalls zunehmend mit wirtschaftlichen Anliegen gekoppelt und auch der Plan für die zukünftige EU-Außenpolitik ist stark von ökonomischen Erwägungen geprägt.
Dementsprechend wurde während der Anhörungen der designierten Kommissare im EP zwischen dem 04. und 12. November der Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand, Innovation, Stärkung der EU-Verteidigungsfähigkeiten und Förderung der globalen Rolle der EU sowie die Verringerung von Abhängigkeiten gelegt. Die Unterstützung der europäischen Industrie, als eine weitere zentrale Priorität der neuen Kommission, wurde ebenfalls hervorgehoben. Ein Blick auf die strategischen Zuständigkeitsbereiche der Kommissare verdeutlichte bereits vor den Anhörungen die wachsende Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Generaldirektionen (DGs) mit dem Ziel, so VDL, eine kohärentere Politikgestaltung zu ermöglichen. In diesem neuen System verfügt jeder Exekutiv-Vizepräsident über ein eigenes Portfolio mit exekutiven Befugnissen und trägt die Verantwortung für die Kohärenz zwischen der inneren und äußeren Politik der EU. Dabei werden beispielsweise Herausforderungen wie globaler Wettbewerb als Notwendigkeit für eine resiliente und gestärkte EU gesehen sowie gleichzeitig als notwendig betrachtet, um die globalen Partnerschaften der EU zu fördern. Auch während der Anhörungen betonten viele der Kommissions-Kandidaten neben einer intensiveren interinstitutionellen Zusammenarbeit die Notwendigkeit einer stärkeren Verknüpfung der unterschiedlichen Portfolios, insbesondere für die zukünftige Gestaltung der Außen-, Sicherheits-, Erweiterungs-, Entwicklungs-, Wirtschafts- und Handelspolitik der EU.
Kaja Kallas (Estonian Reform Party, Renew Europe), eine der prominentesten Stimmen in der europäischen Außenpolitik und neue Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, begrüßte in ihrer Anhörung vor dem EP ebenfalls die neue Struktur der Kommission. Diese sieht vor, dass die meisten Aspekte des auswärtigen Handelns, mit Ausnahme der Verteidigung, unter ihr Portfolio fallen. Kallas erklärte in diesem Zusammenhang, dass sie eine stärkere Verzahnung von Außenhandel und Verteidigungskooperation, Diplomatie sowie Entwicklungszusammenarbeit erwarte. Aus Deutschland äußersten sich ebenfalls bereits prominente Liberale wir MdB Michael Link zur Prioritätensetzung der neuen Kommission und stellten dabei drei Aspekte in den Mittelpunkt: „Eine echte Wirtschaftswende in Europa, eine interessen- und wertebasierte Ausrichtung unserer EU-Mittel und die Stärkung der europäischen Sicherheit“.
Ein Rechtsruck in der EU Politik?
Das finale Ergebnisse der Anhörungen der Kommissare war für manche eine Überraschung – das erste Mal seit 1999 wurden kein Kandidat abgelehnt. Zuvor war spekuliert worden, dass vor allem die umstrittenen Kandidaten von Rechtsaußen wie Italiens Raffaele Fitto (Fratelli d’Italia, ECR) und der kontroverse ungarische Kandidat Olivér Várhelyi (unabhängig/Fidesz affiliiert, Patriots for Europe) Schwierigkeiten haben würden, ihre Anhörungen zu überstehen. Als Abgeordneten des EP während der Plenarsitzung Ende November jedoch schließlich über das nominierte College of Commissioners abstimmen mussten, fand die neue Kommission eine Mehrheit – dabei konnte VDLs Team nur als Ganzes durch das Parlament bestätigt oder abgelehnt werden. Obwohl das Parlament letztendlich die Unterstützung für VDL neues Team und die Kommission gab, zeigt ein Blick auf die Abstimmungsergebnisse deutliche politische Spannungen: neue Kommission hat die niedrigste Zustimmung des Parlaments für eine Kommission seit 1993: 370 stimmten dafür, 282 dagegen, und 36 enthielten sich.
VDLs Kommission hatte in den letzten Monaten durch die Nominierung rechtskonservativer Kandidaten wie Raffaele Fitto bei der Abstimmung unter den Abgeordneten im Parlament die Unterstützung von Teilen der europäischen Grünen und sozialdemokratischen S&D Fraktion verloren. Hingegen konnte sich die Kommissionpräsidentin die Unterstützung von Giorgia Melonis „Brothers of Italy“ (ECR) und die der flämischen „New Flemish Alliance“ (ECR) aus Belgien sichern, obwohl diese im Juni VDLs zweite Amtszeit noch abgelehnt hatten. Ein Grund könnte darin liegen, dass sowohl VDL als auch EVP-Vorsitzender Manfred Weber in den letzten Monaten deutlich gemacht haben, dass sie trotz Proteste von Liberalen, S&D und Grünen Teile der ECR in die Arbeit der Kommission einbinden wollen.[1] Die Gewinne der EVP in den Europawahlen und die noch größeren proportionalen Zugewinne rechtsextremer und populistischer Bewegungen haben es erschwert, an der traditionellen großen Koalition[2] aus EVP, Renew Europe und S&D festzuhalten. Dies könnte mittelfristig einen bedeutenden Rechtsruck in der EU-Politik einleiten, mit Auswirkungen auf Themen wie Migration. Mit Verweis auf die jüngsten Bemühungen der EVP im Zusammenschluss mit rechten Fraktionen die Vorschriften zur Bekämpfung der Entwaldung abzuschwächen – ein Schlüsselbestandteil des Green Deals – sehen einige Beobachter bereits die EVP und ihre Verbündeten aus dem rechten politischen Spektrum als das neue Machtzentrum in diesem Mandat.
Der lange Weg zur Investitionskommission
Nachdem die Kommission nun durch das Parlament bestätigt wurde, kann das College of Commisioners endlich offiziell seine Arbeit beginnen, um die schwierigsten Probleme der EU anzugehen. So setzten Kaja Kallas und der neue Ratspräsident António Costa mit ihrer Reise nach Kiew unmittelbar nach dem offiziellen Amtsantritt der Kommission bereits ein starkes Zeichen für die Unterstützung der Ukraine. Doch obwohl die EU jetzt schnell handlungsfähig sein muss, wird erst der Beginn des neues Jahres Klarheit für den konkreten Handlungsrahmen der EU bringen. Sowohl der Amtsantritt der Trump Administration (20. Januar) und die aktuellen politischen Unsicherheiten in Frankreich, als auch die voraussichtliche Bundestagwahl am 23. Februar sind zentrale Ereignisse für die Zukunft Europas, die die politischen Entscheidungen der nächsten fünf Jahre prägen werden.
Auch wird sich zeigen, wie die interne neue strategische Ausrichtung der Kommission durch den stärkeren Nexus von internen und externen Policy-Dimensionen, in der Realität umgesetzt werden kann. Angesichts bereichsübergreifender Herausforderungen und Prioritäten wird die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kommissaren und DGs intensiviert werden, was potentiell vermehrt zu Kompetenzstreitigkeiten führen könnte. Letztendlich wird es dabei von zentraler Bedeutung sein, ob es der Kommission gelingt, durch die angestrebte engere Verzahnung bestehender und neuer Gesetzesinitiativen die angekündigte Balance zu finden - zwischen einem wertebasierten Ansatz und den Eigeninteressen der EU einerseits und einer globalen partnerschaftlichen Ausrichtung andererseits.
Die neuen politischen und strategischen Prioritäten geben einen ersten Hinweis darauf, welche Politikfelder die Kommission und der Rat in ihrer künftigen Haushaltsplanung in den Mittelpunkt stellen werden. Die Finanzierung der EU durch die gemeinsame Entwicklung des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) für 2028 bis 2035 wird jedoch ebenfalls in den nächsten Monaten eine Probe für die neue Kommission sein. So soll der kommende MFR fokussierter und strukturell einfacher gestaltet werden, um die Resilienz und Handlungsfähigkeit der EU zu stärken und zur Umgestaltung zur Investitionskommission beizutragen. Dieses Ziel wird sich im nächsten MRF und der Entwicklung entsprechender Finanzinstrumente unter Berücksichtigung zentraler Berichte und Empfehlungen wie dem Draghi-Bericht und dem Niinistö-Bericht widerspiegeln. Die Verhandlungen über den milliardenschweren Haushalt der EU bleiben jedoch eine der politisch sensibelsten Aufgaben. Bereits die im Draghi-Bericht empfohlene gemeinsame EU-Kreditaufnahme wurde von Mitgliedsstaaten wie Deutschland und den Niederlanden abgelehnt. Vor dem Hintergrund der zukünftigen Haushaltsplanung wird auch das Thema der EU-Erweiterung eine Priorität einnehmen, da immer mehr die geostrategische und zeitliche Notwendigkeit besteht, Länder wie die Ukraine und die Länder des Westbalkans näher an die EU heranzuführen. Dennoch bleibt abzuwarten, wie die Integrationsbemühungen im Rahmen des neuen MFR finanziell untermauert werden und welche Fortschritte die Kandidatenländer erzielen können.
Die neue Kommission hat nun ihre Arbeit aufgenommen – in einer Zeit voller Herausforderungen und Veränderungen. Der Übergang von einer geopolitischen zu einer Investitionskommission spiegelt den Wandel wider, den die EU in einer zunehmend polarisierten und unberechenbaren Welt durchläuft. Ob es gelingt, die ambitionierten Ziele von mehr Wohlstand, Sicherheit, Demokratie und Wettbewerbsfähigkeit umzusetzen und die Balance zwischen Eigeninteressen, Werteorientierung und globalen Partnerschaften zu finden, wird entscheidend für die Zukunft der EU sein. Klar ist: Brüssel steht vor einer neuen Ära, die nicht nur finanzielle Weichen stellt, sondern auch die politische Richtung der EU in den kommenden Jahren prägen wird.
[1] Bereits Monate vor der Wahl öffnete die EVP ihre Türen nach rechts, insbesondere für Teile der ECR, die sie als legitime und strategische Partner betrachtete – insbesondere in Fragen wie der Unterstützung der Ukraine.
[2] Über die letzten Jahre hat die EVP Mehrheiten durch Zusammenarbeit mit zentristischen und etablierten politischen Fraktionen wie den Liberalen (Renew Europe) und Sozialdemokraten (S&D) gebildet.
Katharina Osthoff arbeitet für die FNF in Brüssel als Senior Policy Advisor International and Institutional Affairs. Zuvor war Frau Osthoff als Politische Beraterin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin für auswärtige Angelegenheiten im Europäischen Parlament in Brüssel sowie im Deutschen Bundestag in Berlin mit den Schwerpunkten Asien und China tätig.