Europäische Union
Polnische EU-Ratspräsidentschaft: Ein Wendepunkt für Europa?
Mit der Übergabe der EU-Ratspräsidentschaft von Ungarn an Polen steht die Europäische Union vor einer entscheidenden Phase. Während Budapests Präsidentschaft von umstrittenen Entscheidungen und enttäuschten Erwartungen geprägt war, setzt Warschau klare Akzente in den Bereichen Sicherheit und wirtschaftliche Resilienz. Angesichts der geopolitischen Spannungen und internen Krisen wird Polens Führung als entscheidend für die Zukunft der EU betrachtet.
Der Wechsel der EU-Ratspräsidentschaft ist normalerweise kein Ereignis, das große Aufmerksamkeit auf sich vereint. Die jüngste Übergabe zu Beginn diesen Jahres ist jedoch von beispiellosem Interesse und hohen Erwartungen begleitet. Es ist lange her, dass ein Wechsel in der Ratspräsidentschaft mit einer derartigen Kontroverse verbunden war wie jener, der vor wenigen Tagen vollzogen wurde.
Polen und Ungarn, die im vorletzten Jahr noch enge Verbündete waren, repräsentieren nun in vielerlei Hinsicht die größten politischen Gegensätze. Nach einem halben Jahr, in dem vielfach Kritik daran geübt wurde, dass Viktor Orbán die Ratspräsidentschaft für seine eigenen Zwecken instrumentalisiert habe, übernimmt nun Polen diese Position. Das Land hat damit eine Stellung erreicht, die es ihm ermöglichen dürfte, eine tatsächliche Führungsrolle einzunehmen – eine Rolle, deren Wirkung weit über das halbjährige Mandat hinausreichen könnte.
EU unter Orbán: Zahlreiche selbsternannte „Friedensmissionen“
Die ungarische EU-Ratspräsidentschaft 2024, die von Juli bis Dezember reichte, war von einer Mischung aus ambitionierten Zielen und kontroversen Entscheidungen geprägt. Unter der an Trump orientierten Devise „Make Europe Great Again“ leitete Ungarn die Präsidentschaft in einer Übergangszeit, die von den Europawahlen sowie der Konstituierung eines neuen Parlaments und einer neuen Kommission geprägt war. In dieser Übergangsphase formulierte Budapest sieben zentrale Prioritäten: die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der EU, die Stärkung der Verteidigungsproduktion, die Bewältigung demografischer Herausforderungen und Migrationsfragen, Konsultationen zur Reform der Kohäsions- und Agrarpolitik sowie die Förderung der Erweiterung der EU, insbesondere mit Blick auf den Westbalkan.
Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, unternahm eine unerwartet hohe Anzahl an diplomatischen Reisen, stets mit einer politischen Agenda im Gepäck. Diese Missionen dienten nicht nur der Förderung ungarischer Interessen, sondern auch der Inszenierung von Orbán als globalem Friedensstifter. Nach dem für seine Partei enttäuschenden Ergebnis bei den Europawahlen, bei denen Fidesz mit knapp 45 Prozent der Stimmen das schlechteste Resultat aller Zeiten erzielte, nutzte Orbán seine Reisen, um sich auf der politischen Weltbühne zu profilieren. Bei einer seiner ersten „Friedensmissionen“ nach Beginn der Ratspräsidentschaft besuchte er innerhalb von nur einer Woche die Präsidenten der Ukraine, Russlands und Chinas. In den letzten Wochen der Präsidentschaft setzte Orbán seine diplomatischen Anstrengungen fort und traf unter anderem Papst Franziskus, Giorgia Meloni und Donald Trump, wobei er seine Rolle in der EU deutlicher von seiner nationalen Funktion trennte.
Ambitionierte Prioritäten, unsichere Ergebnisse
Die Umsetzung der ungarischen Prioritäten blieb jedoch hinter den Erwartungen zurück. Auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik strebte Ungarn eine neue europäische Wettbewerbsvereinbarung an, um die ökonomische Resilienz der Union zu stärken. Die Budapester Erklärung, die im Oktober verabschiedet wurde, betonte zwar die Notwendigkeit von Innovation und Investitionen, führte jedoch zu keinen konkreten Maßnahmen oder legislativen Fortschritten. Auch im Bereich der Verteidigungspolitik setzte Ungarn auf eine stärkere Zusammenarbeit mit der NATO und versuchte, die europäischen Verteidigungsfähigkeiten angesichts der geopolitischen Spannungen zu stärken. Doch auch hier wurden die Fortschritte durch interne politische Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU und durch die unterschiedliche Prioritätensetzung der Mitgliedstaaten gebremst. Konkrete Reformen oder neue Vereinbarungen blieben aus.
Die ungarische Präsidentschaft setzte zudem den Fokus auf die Erweiterungspolitik und organisierte einen EU-Westbalkan-Gipfel, der die politischen Zusammenhänge und die Zusammenarbeit mit den Ländern des Westbalkans vertiefen sollte. Im Rahmen dieses Gipfels wurden die wichtigsten Punkte der Erweiterungspolitik zusammengefasst, jedoch konnte keine neue Dynamik erreicht werden. Auf dem Gipfel wurde die Bedeutung einer kohärenten und leistungsorientierten Erweiterungspolitik hervorgehoben und das Engagement der EU für die Integration der westlichen Balkanländer in die Union als geostrategische Investition für Stabilität und Sicherheit in Europa betont. Als Teilerfolg der ungarischen Präsidentschaft kann die Unterstützung des Beitritts Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Raum betrachtet werden. Dennoch musste Ungarn die österreichische Blockade bezüglich des Beitritts der beiden Länder akzeptieren, was die erhofften Fortschritte dämpfte. Beim Thema Migration trieb Budapest verschärfende EU-Vorhaben voran, wie die Richtlinie gegen Beihilfe bei der illegalen Einreise in die EU. Die von Ungarn vorgeschlagene Migrationspolitik stieß jedoch auf Kritik, da sie wenig Rücksicht auf menschenrechtliche Standards nahm und eher auf Grenzkontrollen als auf umfassende Lösungen zur Migrationsbewältigung setzte.
Im Bereich der Agrarpolitik strebte Ungarn an, eine produzentenorientierte Politik innerhalb der EU zu fördern. Es fanden zahlreiche Diskussionen über Nachhaltigkeit und Ernährungssicherheit statt, doch die erhofften Fortschritte blieben aus. Die Agrarpolitik blieb von internen Differenzen und politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Union geprägt. Im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU wird immer mehr Wert auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz gelegt. Einige Mitgliedstaaten drängen auf strengere Umweltvorschriften und nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken, während andere sich diesen Veränderungen aufgrund von Bedenken über mögliche Auswirkungen auf die Produktivität und die landwirtschaftlichen Einkommen widersetzen. Trotz der Bemühungen um eine stärkere Landwirtschaftspolitik in der EU konnten keine grundlegenden Reformen angegangen werden.
Ein weiteres ambitioniertes Ziel der ungarischen Ratspräsidentschaft war die Förderung der Transparenz bei der Verwendung von EU-Finanzmitteln, insbesondere im Hinblick auf das Erasmus-Programm und die Unterstützung ungarischer Universitäten. Entsprechende Gesetzesänderungen wurden jedoch nicht in dem Maße umgesetzt, wie es erwartet worden war. Die Europäische Kommission stellte insgesamt zwölf Mängel fest, die die Regierung in Ungarn beheben musste. Darüber hinaus kam es zu einer weiteren Eskalation. Ungarn hatte noch nicht alle Vorgaben zur Rechtsstaatlichkeit vollständig umgesetzt, was zu einem Einfrieren vom Kohäsions- und Wiederaufbaufonds führte. Ungarn hatte im Jahr 2022 dauerhaft 1,04 Milliarden Euro aus den eingefrorenen Mitteln verloren, was das Budget für die Ratspräsidentschaft zusätzlich belastete.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ungarische Ratspräsidentschaft zwar ambitionierte Ziele verfolgte, aber viele Einzelprojekte nicht strukturiert umgesetzt werden konnten. Die internen Spannungen innerhalb der EU sowie die politische Situation in Ungarn selbst bremsten den Fortschritt. Während Ungarn versuchte, mit einer Betonung auf Wettbewerbsfähigkeit, Verteidigung und Erweiterungspolitik zu punkten, standen diese Bemühungen oft im Schatten der kontroversen Migrationspolitik und der ungelösten Fragen zur Rechtsstaatlichkeit. Mit der Übergabe der Ratspräsidentschaft an Polen besteht nun die Möglichkeit, diese Defizite zu thematisierten und eine kohärentere Politik in der EU zu verfolgen.
Polen als Hoffnungsträger im Krisenmodus
In einer Zeit beispielloser Krisen, die die Einheit und Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union stark belasten, übernimmt Polen die Ratspräsidentschaft unter vergleichsweise günstigen Bedingungen. Anders als viele Nachbarländer profitiert Polen von einer stabilen, prowestlichen Regierung, die das Land in eine Phase des wirtschaftlichen und politischen Aufschwungs führt.
Die Herausforderungen für die EU gehen jedoch über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die Migrationskrise hinaus. Weitere Belastungsfaktoren sind die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus, das Erstarken populistischer und nationalistischer Bewegungen, der wirtschaftliche Abschwung sowie die fehlende Harmonie im deutsch-französischen Tandem. Vor diesem Hintergrund sind die Erwartungen an die polnische Ratspräsidentschaft hoch.
Polen steht jedoch auch vor eigenen innenpolitischen Herausforderungen. Die Präsidentschaftswahlen im Mai könnten die politische Zukunft des Landes maßgeblich beeinflussen. Der Konflikt zwischen der Regierung unter Donald Tusk (Bürgerkoalition) und Präsident Andrzej Duda, der der nationalpopulistischen oppositionellen PiS nahesteht, hemmt derzeit wichtige Reformen. Dennoch gibt es einen parteiübergreifenden Konsens über die Bedrohungen aus dem Osten und die Notwendigkeit, die Verteidigungsfähigkeit von Polen und der EU zu stärken.
Polens Prioritäten in der EU-Ratspräsidentschaft
Angesichts der geopolitischen Herausforderungen und der instabilen Lage in mehreren Mitgliedstaaten der EU wird die polnische Ratspräsidentschaft eine zentrale Rolle dabei spielen, die Handlungsfähigkeit der EU zu sichern und zu stärken. Es überrascht daher wenig, dass die Sicherheitspolitik der EU als oberste Priorität definiert wurde. Unter dem Motto „Sicherheit, Europa!“ und dem Logo, das an die antikommunistische Bewegung Solidarność erinnert, setzt Polen ein starkes Signal. Wie vor 45 Jahren strebt das Land an, der Initiator und Anführer des Wandels hin zu einem demokratischen Europa frei von russischem Einfluss zu sein.
Unter dem Leitmotiv „Sicherheit“ konzentriert sich Warschau auf sieben Schlüsselthemen, die sowohl die geopolitische Lage als auch die internen Herausforderungen der EU widerspiegeln. Der erste Schwerpunkt ist Verteidigung und Sicherheit. Angesichts des russischen Krieges in der Ukraine positioniert sich Polen als Verfechter einer engeren Zusammenarbeit mit der NATO. Das Land setzt auf Partnerschaften mit den USA, Großbritannien und Südkorea, um die Verteidigungsfähigkeit der EU zu stärken. Die geografische Lage Polens an der östlichen Grenze der EU macht dieses Thema besonders dringlich. Polens oberstes Ziel ist der Bau des sogenannten Ostschilds in Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten, ein hochmoderner Komplex von Befestigungsanlagen entlang der östlichen Grenze zu Belarus und Russland, der nicht nur die nationalen Grenzen, sondern auch die Grenzen der EU und der NATO sichern soll. Ein weiteres konkretes Ziel, das Polen erreichen möchte, ist die Erhöhung der Verteidigungsausgaben in der gesamten EU (allein Polen plant, in diesem Jahr fast fünf Prozent seines BIP für die Verteidigung auszugeben, so viel wie kein anderer nordatlantischer Bündnispartner) und die gemeinsame Produktion von Munition in der EU - um die EU autarker, handlungsfähiger und unabhängiger von Drittstaaten zu machen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Schutz der Außengrenzen. Polen fordert eine effektivere Sicherung der EU-Außengrenzen, insbesondere in Hinblick auf die Migrationsrouten durch Osteuropa, wobei die polnisch-belarusische Grenze seit Jahren einen Brennpunkt darstellt. Dies soll nicht nur illegale Migration eindämmen, sondern auch zur inneren Sicherheit und Stabilität der Union beitragen. Der digitale Sicherheitsbereich bildet den dritten Schwerpunkt. Polen setzt sich für die Schaffung gemeinsamer robuster Infrastrukturen ein, um die EU vor Desinformation und externer Einflussnahme zu schützen. Die Bedrohung durch Cyberangriffe und Desinformationskampagnen von außen stellt eine wachsende Herausforderung dar.
Polens vierte Priorität ist die wirtschaftliche Sicherheit. Ziel ist es, den Binnenmarkt zu vertiefen und bürokratische Hürden abzubauen. Als eines der wirtschaftlich dynamischsten Länder in Mittel- und Osteuropa betont Polen die Bedeutung der wirtschaftlichen Resilienz für eine stabile und wettbewerbsfähige Union. Dabei wird der Begriff „Deregulation“ immer wieder in den Vordergrund genommen. Im Bereich der Energiesicherheit setzt Polen auf die Diversifizierung von Energiequellen und den Ausbau erneuerbarer Energien, um die strategische Unabhängigkeit der EU zu fördern. Angesichts der Erfahrungen Polens in der Reduzierung der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen hat dieses Thema besondere Priorität.
Da der primäre Sektor immer noch im Lande eine wichtige Rolle spielt, wurde eine der Prioritäten auch eine wettbewerbsfähige und widerstandsfähige europäische Landwirtschaft. In Zeiten globaler Unsicherheiten betont Polen die Bedeutung einer gestärkten gemeinsamen Agrarpolitik. Ziel ist es, die Nahrungsmittelversorgung in der Union nachhaltig zu sichern und die europäische Landwirtschaft wettbewerbsfähig zu halten. Der letzte, aber keinesfalls nachrangige Schwerpunkt ist die gesundheitliche Sicherheit. Der Fokus wird darauf liegen, die EU besser auf andere potenzielle Epidemien und Krisen vorzubereiten. Dies soll beispielsweise durch eine koordinierte Herstellung von Medikamenten innerhalb der EU und die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung erreicht werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Übergabe der EU-Ratspräsidentschaft von Ungarn an Polen einen markanten Wendepunkt in der europäischen Politik darstellt. Während Ungarn in den zurückliegenden sechs Monaten dank Orbán vor allem wegen kontroverser Entscheidungen und vager Ergebnisse von sich reden machte, ist das nächste halbe Jahr mit Polen an der Ratsspitze mit vielen Hoffnungen verknüpft. Polens klare Prioritäten in den Bereichen Sicherheit, wirtschaftliche Resilienz und Grenzsicherung spiegeln die aktuellen Herausforderungen der EU wider. Mit einem starken Fokus auf die Zusammenarbeit innerhalb und mit der NATO, der Bekämpfung von Desinformation und der Förderung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, könnte Polen die dringend benötigte Führung auch nach Ende seiner EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, um die Handlungsfähigkeit und Einheit der Union wieder zu stärken.