Vereinigtes Königreich
Risse in der 'blauen Mauer‘?
Boris Johnson hat eine harte Woche hinter sich. Als Gastgeber des G7-Gipfels musste er spitze Bemerkungen von Präsident Biden und kontinentaleuropäischer Staats- und Regierungschefs über die Bedeutung des Nordirland-Protokolls ertragen. Zusätzlich veröffentlichte sein ehemaliger Berater, Dominic Cummings, der sich für seinen Rauswurf rächen wollten, WhatsApp-Nachrichten des Premierministers, die Johnsons weniger schmeichelhafte Ansichten über die Regierung und über seine Kollegen enthüllten. Obendrein bescherten ihm die Liberaldemokraten am vergangenen Donnerstag eine sensationelle Niederlage bei den Nachwahlen in einem konservativen Wahlkreis im Südosten Englands, der normalerweise als Teil der "blauen Mauer" von Johnsons konservativer Partei gilt. Was bedeutet die Wahlniederlage für Boris Johnson und seine Regierung?
Niederlagen bei Nachwahlen sind für amtierende Regierungen nicht ungewöhnlich. Sie haben auch nicht immer große Auswirkungen. Während sie als Druckventile dienen, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu lösen, ändern sie selten den Kurs der Regierung. Die Wahlniederlage im Kernland der konservativen Partei letzten Donnerstag könnte allerdings einen Stimmungswandel in den Reihen der Regierung bewirken.
Eine Nachwahl findet statt, wenn ein amtierender Abgeordneter stirbt oder aus dem Parlament zurücktritt. Margaret Thatcher und ihre Nachfolger erlitten viele solcher Wahlniederlagen zu einer Zeit, als das Durchschnittsalter der Abgeordneten solche Nachwahlen wahrscheinlicher machte. Wie seine Vorgänger regiert auch Johnson durch die „Wahldiktatur“ des vom Mehrheitswahlrecht gekennzeichneten parlamentarischen Systems des Vereinigten Königreichs mit einer komfortablen Stimmenmehrheit im Parlament. Erst letzten Monat erzielten die Konservativen einen unerwarteten Wahlerfolg und gewannen einen Sitz im Kernland der „roten Mauer“ der Labour Partei – ein seltenes Beispiel dafür, dass eine amtierende Regierung die Opposition besiegt. Nunmehr den Wahlkreis ‚Chesham und Amersham‘ an die Liberaldemokraten zu verlieren – mit mehr als 8.000 Stimmen, was einer Schwankung von 25% entspricht – dürfte den Premierminister und seine Kollegen tief treffen.
Es gab zahlreiche Faktoren, die zum Wahlergebnis beitrugen, einschließlich lokaler und einiger nationaler Angelegenheiten. Dass sich die Liberaldemokraten den Unmut der Bürger gegen den Bau einer neuen Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke mitten durch den Wahlkreis zunutze machten, war zwar deprimierend populistisch, nicht zuletzt, weil die Liberalen den Bau im Parlament unterstützt hatte. Aber ein wesentlicher Faktor für das Abstimmungsverhalten der Bürger war die Unzufriedenheit mit dem Brexit. Man sieht sich eben immer zweimal im Leben.
Für den Parteiführer der Liberaldemokraten, Ed Davey, der es bisher – mit nur 11 Abgeordneten – nicht geschafft hat, in den Medien Aufmerksamkeit zu erregen, ist das Ergebnis ein willkommener Impuls. Die Kandidatin, die die Wahlen gewonnen hat, Sarah Green, ist Geschäftsfrau und langjähriges Parteimitglied, die der Partei bereits als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Parlament gedient hat. Green wird eine kompetente Abgeordnete sein, obwohl sie Schwierigkeiten haben wird, den Sitz bei einer allgemeinen Parlamentswahl zu verteidigen, da ihr Wahlkampf dann nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wird und mit weniger Ressourcen bestückt sein dürfte.
Für Premierminister Boris Johnson dürfte die Wahlniederlage die Unzufriedenheit seiner konservativen Partei mit seinem eigenwilligen Regierungsstil allerdings nur noch verstärken. Es wird nicht übersehen, dass es mehr als 100 Jahre her ist, dass die Liberaldemokraten zuletzt einen Abgeordneten in Buckinghamshire gewannen. Und es wird insbesondere seinem parteiinternen Rivalen, Michael Gove, in die Hände spielen, der bereits die Messer wetzt.