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Parlamentswahlen
Zweite Runde der Parlamentswahlen: Wird Frankreich unregierbar?

Anhänger der neuen Volksfront auf dem Place de la République in Paris nach dem Wahlausgang

Anhänger der neuen Volksfront auf dem Place de la République in Paris nach dem Wahlausgang

 

© picture alliance / Anadolu | Nathan Posner

Die erste Reaktion am Wahlabend des 7. Juli war ein Aufatmen, dass der Rechtsruck des Rassemblement National (RN) bei dem zweiten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen verhindert werden konnte. Das RN, das sich im ersten Wahlgang mit 33 % der Stimmen in acht von zehn Wahlkreisen für den zweiten Wahlgang qualifizierte, schaffte es letztendlich mit 143 Abgeordneten lediglich auf den dritten Platz hinter der Neuen Volksfront (NFP, 182 Abgeordnete) und dem Präsidentenbündnis „Ensemble pour la République“ (168 Abgeordnete). Damit verfügt keine der politischen Kräfte über eine absolute Mehrheit von 289 Abgeordneten. Es herrscht eine Patt-Situation.

Sitzverteilung nach Parteienbündnissen nach den Wahlen in Frankreich

Sitzverteilung nach Parteienbündnissen nach den Wahlen in Frankreich

© FNF

Die republikanische Front bröckelt

Dass das RN nicht so gut abschnitt, wie befürchtet, lag zum großen Teil daran, dass in Wahlkreisen, in denen sich drei Kandidaten für den zweiten Wahlgang qualifiziert hatten (sogenannte „triangulaire“), sich die drittplatzierten Kandidaten der anderen demokratischen Parteien zurückgezogen haben, um den Kandidaten des RN in einer Stichwahl zu schlagen. Der Plan scheint aufgegangen zu sein, jedoch bleibt festzuhalten, dass viele Wahlkreise mit nur wenigen Prozentpunkten Unterschied zu Ungunsten des Rassemblement National entschieden wurden. Die Annahme, die Brandmauer gegen rechts, die sich einst von den Linken bis zu den Républicains erstreckte, hätte weiterhin einwandfrei funktioniert, ist trügerisch. Der RN ist in Wirklichkeit stärker als zuvor, nur kann er sich im Falle der Stichwahl (wie auch bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2022) immer noch nicht gegen die Wahlbündnisse der anderen demokratischen Parteien durchsetzen. Dennoch ist sein Aufstieg fulminant, schließlich hatte er 2022 nur 88 Abgeordnete.

Die rechtsextreme Partei hat nun Zeit gewonnen, seine Kandidatinnen und Kandidaten für die nächsten Parlamentswahlen, die durchaus in einem Jahr wieder stattfinden könnten, genauer unter die Lupe zu nehmen und entsprechend seriösere Kandidaten aufzustellen. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil der Wählerschaft, insbesondere aus dem ehemals republikanischen Lager, sich aufgrund der zahlreichen Skandale um Äußerungen, die den rassistischen Kern einiger Kandidaten offenlegten, sowie ihre Amateurhaftigkeit aufzeigten, in den letzten Zügen des Wahlkampfes noch von der rechtsextremen Partei abgewandt hat.

Folgen für Europa

Auch wenn Marine Le Pens RN keinen Wahlsieg in Frankreich einfahren konnte, hat das RN entscheidend Auftrieb erfahren. Sie stellt mit Jordan Bardella fortan den Vorsitz der neu gegründeten Fraktion der „Europäischen Patrioten“, die nicht zufällig offiziell am 8. Juli, also nur einen Tag nach den französischen Parlamentswahlen, in die Taufe gehoben wurde. Die Fraktion ist mit aktuell 84 Abgeordneten aus 12 EU-Staaten nun drittstärkste Kraft im EP und stellt damit die andere Rechtsaußen-Fraktion der europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) in den Schatten, die auf den vierten Platz abrutscht. Das dürfte der EKR-Anführerin Georgia Meloni sicherlich nicht gefallen haben. Marine Le Pen war es nicht gelungen, alle europäischen Nationalisten in einer Fraktion zu vereinen, da die anti-transatlantische und pro-russische Ausrichtung einiger ehemaliger I&D-Parteien sowie der ungarischen Fidesz der EKR zuwiderlief. Zudem hatten sich Konservative, Sozialdemokraten und Liberale bereits dazu entschlossen – wie auch schon 2019 gegenüber der I&D-Fraktion – einen sog. „cordon sanitaire“ auf die „Europäische Patrioten“-Fraktion zu legen und diese daran zu hindern, wichtige Posten im EP zu übernehmen. Andererseits ist die Fraktionszugehörigkeit auf europäischer Ebene weniger wichtig, da eine geringere Fraktionsdisziplin als auf nationaler politischer Ebene herrscht.

Mit insgesamt 162 Abgeordneten kommen die Rechtsaußenparteien im EP noch lange nicht auf eine Mehrheit. Sie könnten aber das Regieren in Brüssel wesentlich komplizierter machen und, sollten sie von Stimmen der konservativen EVP gestützt werden, einzelne Dossiers, beispielsweise in der Umweltpolitik, zu Fall bringen. Die RN-Delegation ist mit 30 Abgeordneten die größte nationale Delegation im ganzen EP (die CDU/CSU hat 29 Abgeordnete) und wird darauf bedacht sein, ihren Gestaltungsraum weiter auszubauen. Es wird sich zeigen, ob sie ihren Prozess der ‚Normalisierung‘ auch europapolitisch weitergeht, um perspektivisch Regierungsverantwortung zu übernehmen oder in der Rolle der Fundamentalopposition verhaftet bleibt. Zum einen trug sie maßgeblich dazu bei, dass die AfD von der I&D-Fraktion ausgeschlossen wurde, zum anderen entschied sie sich nun jedoch zum Beitritt der neuen „Europäischen Patrioten“. Diese ähneln stark in ihrer ideologischen Ausrichtung der alten I&D-Fraktion und mit Parteien wie der Fidesz, FPÖ oder der niederländischen Partei für die Freiheit PVV Werte wie die traditionelle Familie und den Kampf gegen illegale Einwanderung hochhalten. Doch vor allem ist hieran ein Widerspruch des RN zu seinen öffentlichen Bekundungen während des französischen Europa- und Parlamentswahlkampfes zu sehen, seinen pro-russischen Kurs verlassen zu haben. Schließlich ist der enge Schulterschluss mit Viktor Orbán, der jüngst zu Gesprächen mit Wladimir Putin nach Moskau reiste, ein klares Indiz dafür, in welche Richtung sich ein Frankreich unter RN-Führung entwickeln würde.

Jordan Bardella, Vorsitzender der Rassemblement National Partei, bei seiner Rede nach den Teilergebnissen der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen.

Jordan Bardella, Vorsitzender der Rassemblement National Partei, bei seiner Rede nach den Teilergebnissen der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen.

© picture alliance / Anadolu | Artur Widak

Wie geht es weiter in Frankreich?

Angesichts der unklaren Machtverhältnisse werden in Frankreich nun die Rufe nach einer Koalition laut, wie man sie aus Deutschland, Italien oder Belgien kennt. Doch die „republikanische Monarchie“ (siehe Maurice Duverger) ist im Gegensatz zu Deutschland keine „Verhandlungsdemokratie“ (siehe Gerhard Lehmbruch). Die Kultur, politische Kompromisse einzugehen und von der Maximalposition auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, wie dies beispielsweise im Rahmen der Koalitionsverhandlungen der Ampel in Deutschland gelungen sind, entspricht nicht der DNA des französischen politischen Systems. Vielmehr scheinen die politischen Gräben der verschiedenen politischen Kräfte tief verwurzelt zwischen der Linken, der politischen Mitte und den Konservativen.

Während die linke Volksfront mit über 180 Abgeordneten zwar die größte politische Kraft ist und daraus einen unmittelbaren politischen Führungsanspruch ableitet, ist die Situation aus Sicht des Präsidentenbündnisses noch völlig offen. Ein Blick auf die französische Verfassung zeigt, dass keine klare Handlungsanleitung hinsichtlich der Wahl eines Premierministers und der Regierungsbildung besteht. Der Präsident kann den Premierminister frei bestimmen, die republikanische Tradition will es aber, dass diese Person aus der Mehrheitsfraktion stammt. Verschiedene Thesen zirkulieren nun, warum der französische Präsident Emmanuel Macron auf Zeit spielt und das Linksbündnis NFP nicht direkt mit einer Regierungsbildung beauftragt hat. Vor allem hofft er, dass sich die Linke intern so weit zerlegt, dass die moderaten Kräfte aus dem Bündnis doch noch herausgebrochen werden könnten. Denn es ist bereits absehbar, dass das linke Wahlbündnis, das mit heißer Nadel einen Tag nach Ausrufung der Neuwahlen gestrickt wurde, sich in unterschiedlichen Fraktionen in der Nationalversammlung aufteilen wird. Dieser Logik folgend wäre dann insbesondere die von Jean-Luc Mélenchon gegründete links-populistische und europaskeptische LFI mit seinen über 70 Abgeordneten zahlenmäßig den Macronisten unterlegen. Zudem kommt, dass ein Misstrauensvotum, selbst wenn der RN und LFI zusammen gegen die Regierung stimmen würden, keine Chance auf Erfolg hätte, da dafür eine absolute Mehrheit nötig wäre. Dies erklärt, warum trotz der Einbuße von circa 90 Abgeordneten (250 im Jahr 2022 vs. 168 im Jahr 2024) das Präsidentenbündnis weiter mit entsprechendem Selbstbewusstsein auftritt.

Aus Sicht der Macronisten wäre eine Option, mit ihren Ensemble-Bündnispartnern eine Koalition mit den moderaten Kräften des Linksbündnisses, also den Grünen, Sozialdemokraten, sowie einzelnen Republikanern zu schmieden. Es würde sich also nicht um eine Kohabitation handeln. Da das Linksbündnis dieser Option bereits sehr schnell eine Absage erteilte und weiter als geeinte Kraft auftritt, in der neben den Sozialdemokraten und Grünen vor allem das unbeugsame Frankreich (LFI) einen Regierungsanspruch stellt, gilt diese auch von deutschen Politikern wie Michael Link bevorzugte Option als schwer realisierbar.

Beziehungsstatus: es ist kompliziert

So lotet das Präsidentenbündnis gerade eine andere Option aus: ein Paktieren mit den Républicains – zumindest mit denjenigen, die dazu bereit sind. Nachdem die Konservativen sich seit dem Wahlmanöver des Noch-Parteichefs Éric Ciotti, der den RN unterstützte, in einer Sinnkrise befinden, herrscht vor allem eins: Vielstimmigkeit und ein Kampf um die Deutungshoheit. Der Noch-Innenminister und Ex-Republikaner Gérard Darmanin (heute Renaissance) organisierte bereits ein Sondierungsgespräch, um eine Koalition mit den Konservativen zu schmieden. Auch das politische Schwergewicht Xavier Bertrand, der Präsident der Region Hauts-de-France ist und in der Vergangenheit als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde, spricht sich für eine Zusammenarbeit von Konservativen und Präsidentenbündnis aus, aber würde einen Premierminister aus den Reihen der Républicains als Vorbedingung einer Kohabitation machen. Diese Regierung würde aber angesichts der Zahlenverhältnisse nur auf eine relative Mehrheit kommen. Damit wäre gegenüber den letzten Regierungsjahren seit den Wahlen von 2022 nicht viel gewonnen, in denen die Regierung bereits mit einer relativen Mehrheit regierte, was tatsächliche Entscheidungen erschwerte. 2022 waren die Républicains zudem nicht bereit, in eine Koalition mit dem Präsidentenbündnis einzutreten, obwohl sie die großen politischen Projekte wie die Rentenreform oder Arbeitslosenversicherung in großen Teilen mittrugen. Ein Teil der Abgeordneten unter Laurent Wauquiez (Les Républicains) schließt auch weiterhin strikt eine Zusammenarbeit aus, sodass mit weiteren Abspaltungen, bis hin zu einer Implosion der konservativen Partei zu rechnen ist. Aktuell kommen die Républicains mit den „divers droite“ auf circa 60 Abgeordnete, wie genau die Machtverhältnisse sich jedoch austarieren werden, hängt entscheidend von der Fraktionsbildung ab, die bis zur ersten Parlamentssitzung der Assemblée Nationale am 18. Juli abgeschlossen sein soll.

Die neue Unübersichtlichkeit

Umbenennungen, Spaltungen und kurzlebige Parteienbündnisse sind für das französische Parteiensystem charakteristisch. Die internen Zerwürfnisse innerhalb der Republikaner, der Linken, aber auch immer mehr innerhalb des Präsidentenbündnisses führen jedoch zu einer besonders hohen Volatilität und Unübersichtlichkeit. Der vertikale Führungsstil des französischen Präsidenten und seine Missachtung des Parlaments hat die Frustration vieler macronistischer Abgeordneter anstauen lassen. Der noch im Amt befindliche Premierminister Gabriel Attal, der Anspruch auf die Fraktionsführung des Präsidentenbündnisses in der Assemblée Nationale hat (dem Macron nicht zustimmt), spricht sich für eine stärkere Parlamentarisierung aus. Teile der Abgeordneten überlegen, eigene Fraktionen zu gründen. Es wird klar: Die sogenannte Macronie hat ihre Truppen nicht mehr fest im Griff.

In der Zwischenzeit könnte die Linke noch diese Woche mit einem möglichen Namen eines Premierministers aufwarten, um den politischen Druck auf den französischen Präsidenten zu erhöhen. Aller Voraussicht nach wäre dies ein Politiker aus den Reihen der Parti Socialiste wie beispielsweise der Erste Sekretär der Partei Olivier Faure. Aber solange die linkspopulistische LFI Teil eines solchen Bündnisses ist, die im Wahlkampf immer wieder mit antisemitischen und außenpolitisch fragwürdigen Positionen in Erscheinung getreten ist, würde das Präsidentenbündnis dem niemals zustimmen.

Antworten auf die politische Vertrauenskrise finden

So befindet sich Frankreich trotz der ersten Momente der Euphorie vielmehr in einer tiefen politischen Krise. Es ist den 10,5 Millionen Wählern des RN und seiner Verbündeten auch nur schwer vermittelbar, warum nach dem Erdrutschsieg des RN im ersten Wahlgang, nun eine linke Regierung an die Macht kommen sollte. Diese Wählerschaft sieht die Themen Kaufkraft und Steuerung der Migration als prioritär an, für die eine linke Regierung ihrer Ansicht nach keine zufriedenstellenden Lösungen parat hat. Vielmehr wäre eine Regierung der nationalen Einheit, die prioritäre Handlungsfelder definiert, in denen eine überparteiliche Zusammenarbeit möglich ist, um das Land zu befrieden und zentrale Probleme der Bürgerinnen und Bürger anzugehen, dringend notwendig. Denn nur wenn Antworten auf die politische Vertrauenskrise gefunden werden können, kann eine Wahl des RN bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 abgewendet werden. Dies ist auch im vitalen Interesse Deutschlands und Europas. Denn ohne Frankreich ist in der Europapolitik Stillstand vorprogrammiert.

Jeanette Süß ist seit März 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) des französischen Instituts für internationale Beziehungen (Ifri). Zuvor war sie als European Affairs Managerin beim Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, wo sie unter anderem die Frankreich-Projekte der Stiftung betreute.