75 Jahre Nürnberger Prozess
Nürnberger Prozess – Die Antwort des Rechts
„Der Prozeß der nunmehr eröffnet wird, steht einzig in der Geschichte der Rechtspflege der Welt da und ist von größter Bedeutung für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt.“ Nicht nur der Vorsitzende Richter, der Brite Geoffrey Lawrence, war sich der Symbolkraft des Gerichtsverfahrens wohl bewusst, das er am Vormittag des 20. November 1945 gegen 21 Angeklagte am Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg begann. In Aufsätzen und Artikeln wird stets der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson zitiert, der die Eröffnung des Verfahrens mit seiner rhetorischen Brillanz zelebrierte und die fundiertesten rechtlichen Begründungen für diesen Strafprozess lieferte.
Längst steht der Nürnberger Prozess inzwischen vor allem für eines: Eine Antwort des Rechts auf schlimmste Verbrechen und unvorstellbares Unrecht. Vier nachhaltige Errungenschaften wirken bis heute im Internationalen Strafrecht fort.
Ahndung von Verbrechen gegen die gesamte Menschheit
Die unzähligen Grausamkeiten Nazi-Deutschlands an Zivilpersonen nahm das Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Blick. Erstmalig verankert der Nürnberger Prozess diesen Straftatbestand im internationalen Recht; seither gehört er zum Kernbestand der anerkannten Völkerrechtsverbrechen. Angeklagt wurde die gezielte Politik der Verfolgung, Versklavung, Ermordung und Ausrottung von Juden und anderen Teilen der Zivilbevölkerung. Der Vorwurf an die Nazi-Führer lautete, Gewalt, Brutalität und Terror zu Werkzeugen politischer Macht erhoben, organisiert und zu alltäglichen Erscheinungen gemacht zu haben.
Geburtsstunde des Weltrechtsprinzips
Mit dem Nürnberger Prozess wurde zugleich der Grundstein für das Weltrechtsprinzip gelegt, das die Strafverfolgung heute weltweit, gewissermaßen „grenzenlos“ ermöglicht. Ein aktuelles Beispiel demonstriert das spektakuläre Verfahren vor dem Oberlandesgericht Koblenz, bei dem derzeit erstmals zwei Geheimdienstmitarbeiter des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind. Die beiden Angeklagten sollen Teil des syrischen Folterapparats gewesen sein und Menschen gezielt verfolgt haben. Nach ihrer Flucht wurden sie von Opfern in Deutschland erkannt.
Freiheit des menschlichen Willens
Der Einzelne kann sich bis heute nicht darauf berufen, auf Befehl gehandelt zu haben – selbst wenn es sich wie bei den Verbrechen der Nationalsozialisten um staatlich organisierten Massenmord handelte. So betonte Chefankläger Jackson gegenüber den Nürnberger Richtern bereits während des Verlesens der Anklage: „Keiner dieser Männer hier vor Ihnen hat eine untergeordnete Rolle gespielt. Jeder konnte in vielem nach freiem Ermessen handeln und hatte eine große Macht. Entsprechend groß ist daher auch seine Verantwortung.“ Die Freiheit des menschlichen Willens bedingt die Verantwortlichkeit des Individuums. Trotz aller Umstände steht es jedem Einzelnen immer frei, sich für Recht oder Unrecht zu entscheiden. Denn es sind immer einzelne Menschen, die für die Tötung ihrer Mitmenschen verantwortlich sind, und nicht allein die dahinterstehenden Organisationen, Regierungen oder Ideologien. Das gilt in besonderem Maße für die Hintermänner und Auftraggeber solcher Verbrechen, die sich selbst nicht die Hände schmutzig machen, sondern sich dafür anderer Personen bedienen. Militärische Befehlshaber, sonstige Vorgesetzte und Staatsoberhäupter müssen daher genauso bestraft werden wie diejenigen, die die eigentliche Tat verübt haben.
Transparenz und Öffentlichkeit der Verfahren
Auch auf einer anderen Ebene hat der Nürnberger Prozess Maßstäbe gesetzt. Nicht nur war es das erste Verfahren, in dem Simultandolmetschen praktiziert wurde, es war auch das erste im Licht einer weltweiten Öffentlichkeit. Damals wurde eine bis heute in Deutschland unerreichte Transparenz des Verfahrens verwirklicht. So sind die Transkripte zu jedem einzelnen Verhandlungstag in der sogenannten „Blauen Reihe“ gesammelt und seit 1947 frei zugänglich, umfangreiches Film- und Audiomaterial ist archiviert. In deutschen Strafverfahren sind hingegen erst seit 2017 lediglich Tonaufnahmen gestattet, aber nicht verpflichtend, und nur für wissenschaftliche Zwecke zugänglich. Immerhin hat die Vorsitzende Richterin im Verfahren gegen den Attentäter von Halle bereits von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Nach dem Urteil wurden die Tonaufnahmen archiviert. Aufgrund des Landesarchivgesetzes sind sie in frühestens 30 Jahren für Wissenschaftler:innen hörbar. Für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit derartigen gravierenden Verbrechen wie vor der Synagoge in Halle wäre allerdings ein viel früherer und breiterer Zugang notwendig – gerade auch für die Öffentlichkeit. Eine vergleichbare Transparenz wie bereits im Nürnberger Prozess gibt es dagegen heute am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Das Wortprotokoll ist zwei Tage später online verfügbar und die Verfahren selbst können live im Internet beobachtet werden.
Ganz unabhängig von den Errungenschaften des Nürnberger Prozesses sollten wir uns mit Blick auf Lukaschenko in Belarus, Assad in Syrien, Militärverantwortliche in Myanmar und anderem Machtmissbrauch an vielen Orten dieser Welt den wichtigsten Rechtsgrundsatz unserer menschenrechtlichen Neuzeit in Erinnerung rufen, der auch in Nürnberg entstand:
Niemand steht über dem Gesetz!