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Krieg in Europa
Instrumente und Ziele von Putins aggressiver Diplomatie gegenüber der Ukraine verstehen

Vladimir Putin

Wladimir Putin am 12. April in Moskau 

© picture alliance/dpa/Russian President Press Office | Mikhail Klimentyev

Putin will keine "Win-Win"-Deals mit Demokratien - außer es gelingt ihm, ein Netz von Täuschungen zu schaffen und die Widerstandsfähigkeit seiner demokratischen Partner zu untergraben. Das sollte nicht geschehen.

Seit dem Beginn von Russlands Invasion in der Ukraine bemühen sich die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Deutschland, Israel und der Türkei, bei Gesprächen zwischen Moskau und Kiew über die Friedensbedingungen zu vermitteln. Während Präsident Selenskyj diese Bemühungen begrüßte und sich zu Friedensgesprächen bereit erklärte, nahm Präsident Putin eine zweideutige Haltung ein: Innenpolitisch bekräftigte Putin seine Absicht, den Krieg ungeachtet der verheerenden Niederlage bei Kiew und der zahlreichen Kriegsverbrechen fortzusetzen. Zugleich diskutieren Putins Diplomaten verschiedene Varianten einer Friedenslösung, als ob in der Ukraine nichts passiert sei und Russland nicht Leben, Städte und die Wirtschaft der Ukraine zerstören würde.

Um die gemeinsame westliche und ukrainische Diplomatie gegenüber den Forderungen Russlands zu steuern, muss man die russische Strategie verstehen.

Erstens verwendet der Kreml vage Rechtsbegriffe, die unterschiedlich ausgelegt werden können und es ihm ermöglichen, rechtliche Verpflichtungen für sich selbst zu vermeiden, während er den Gegner unter Druck setzt.

So gelang es Russland beispielsweise im November 2003, die Regierung der Ukraine davon zu überzeugen, das Asowsche Meer als "historisch inneres Gewässer" anzuerkennen. Damit konnte Russland so viele Marineschiffe in dem Meer stationieren, wie es wollte, untersagte aber die Präsenz von Kriegsschiffen anderer Länder. Da die Ukraine außer kleinen Schiffen des Grenzschutzes keine Schiffe in dem Gebiet hatte, führte dies zu einer enormen militärischen Asymmetrie, die Russland während und nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 effektiv nutzte, um die ukrainische Asow-Küste zu bedrohen.

Ein vages Konzept der Neutralität

In den Gesprächen mit der Ukraine versucht Russland heute, ein vages Konzept der Neutralität als Hauptforderung gegenüber der Ukraine durchzusetzen. Einerseits verweist Moskau auf Beispiele, die den Europäern bekannt sind, und spricht von einem "österreichischen" oder "finnischen" Modell der Neutralität, ungeachtet der rechtlichen Unterschiede und des historischen Kontextes. Außerdem beruft sich Russland auf die von einigen ehemaligen US-Diplomaten wie Henry Kissinger geäußerten Ideen über den blockfreien Status der Ukraine als Kompromiss zwischen Russland und dem Westen.

Andererseits erklärt der Kreml nicht, auf welche Weise er die Neutralität der Ukraine respektieren wird. Es gibt keine Garantien, dass der Kreml die Vereinbarung in Zukunft nicht verletzen wird. Darüber hinaus sagt der Kreml nichts darüber, welches ukrainische Gebiet unter die Neutralität fallen wird, da die besetzte Krim, die Regionen Donezk und Luhansk sowie große Teile der Regionen Cherson und Saporischschja unter der operativen Kontrolle russischer Invasionstruppen stehen.

Die Frage des Territoriums ist aus gutem Grund wichtig. Die Einhaltung der international anerkannten Grenzen der Ukraine ist der Schlüssel zur Umsetzung jeder völkerrechtlichen Vereinbarung über ihren künftigen Status. Wenn man Russland die besetzten Gebiete der Ukraine überlässt, kann Moskau Streitigkeiten über die Grenzen dieser Gebiete nutzen, um Druck auf die Ukraine auszuüben.

So kann Russland, wie kurz vor dem Beginn des großen Krieges, Operationen unter falscher Flagge und Provokationen inszenieren, um zu behaupten, die Ukraine halte sich nicht an das Friedensabkommen, und dies als Rechtfertigung für eine erneute Invasion nutzen. Der Kreml zögert, diese Themen anzusprechen, und will die Besetzung des ukrainischen Territoriums als Druckmittel bei künftigen Friedensgesprächen nutzen.

Russlands Marionetten

Zweitens verwendet der Kreml seine Marionetten (Proxy-Akteure), um seine Interessen zu verschleiern und die für Russland vorteilhaften Vorschläge zu unterbreiten. Diese Proxy-Instrumente und -Akteure können auch eingesetzt werden, um die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen, wenn deren mögliches Ergebnis für Russland belastend ist.

Als Beispiele können die Vereinbarungen von Minsk I (September 2014) und Minsk II (Februar 2015) genannt werden. In beiden Fällen hat der Kreml trotz der Tatsache, dass Russland direkt militärisch interveniert und mit den ukrainischen Streitkräften gekämpft hat, stellvertretende "Behörden" der besetzten Regionen Donezk und Luhansk geschaffen und sie als Parteien der Vereinbarungen eingesetzt, während Russland selbst versuchte, sich als Vermittler zu positionieren.

Infolgedessen konnte die russische Militärführung zwischen 2015 und 2021 weiterhin Befehle an Truppen erteilen, die als separatistische Milizen getarnt waren, und russische Diplomaten leiteten separatistische Delegationen während der Gesprächsrunden in Minsk.

In den Beziehungen zu den EU-Ländern hat der Kreml die gleiche Taktik angewandt. Bei den russischen Proxy-Akteuren handelte es sich jedoch um staatliche und private Energieunternehmen, die Joint Ventures mit deutschen, österreichischen und ungarischen Unternehmen als Instrumente des wirtschaftlichen und politischen Einflusses gründeten.

In der gegenwärtigen Situation tut Russland dasselbe und nutzt neue Marionetten. Am 8. April sagte Außenminister Lawrow, dass Belarus in Zukunft Sicherheitsgarantien für die Ukraine leisten sollte, sobald Kiew seinen neutralen Status erklärt hat.

Dieser Schritt zeigt, wie Russland den Friedensprozess mithilfe von Proxy-Akteuren untergraben kann. Das belarussische Regime ist wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen von der EU und den USA sanktioniert worden, und sein Territorium wird als Militärbasis für russische Invasionen genutzt. Wenn die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten gegen das Engagement von Belarus protestieren, wird Moskau dies nutzen, um sie als nicht friedenswillig darzustellen.

Sollte Belarus jedoch zu den Verhandlungen zugelassen werden, wird der Kreml dies nutzen, um den Verhandlungsprozess in seinem Sinne zu manipulieren. Belarus könnte sich dann entweder als aggressiver Akteur präsentieren, zu dem die Friedensvorschläge Russlands im Verhältnis gesehen als gemäßigt und akzeptabel erscheinen könnten. Oder Belarus könnte als friedlicher Akteur auftreten, der die verdeckten russischen Vorschläge als Kompromisse im Vergleich zu den rigiden Moskauer Forderungen vorantreibt.

Russische Drohungen

Drittens ist der Kreml daran gewöhnt, seine Verhandlungspartner mit schwerwiegenden Folgen zu bedrohen, wenn die Verhandlungen ohne ein für Russland vorteilhaftes Ergebnis abgebrochen werden.

Das jüngste Beispiel ist die russische Drohung einer "militärischen Antwort" auf die NATO und die USA, als diese einen Vorschlag ablehnten, Russland rechtsverbindliche Sicherheitsgarantien zu geben und den russischen Vertragsentwürfen über NATO-Truppen in Mittel- und Osteuropa zuzustimmen.

Seit 2014 hat die Ukraine bei Verhandlungen im Normandie-Format oder in der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk immer wieder dieselben Taktiken Russlands erlebt. Nach jeder Weigerung der Ukraine, vor einem Waffenstillstand einseitige politische Zugeständnisse zu machen, verstärkte der Kreml die militärische Eskalation im Donbass.

Jetzt rechnet der Kreml damit, dass die westlichen NATO-Mitgliedstaaten nicht in einen heißen Konflikt mit Russland eintreten wollen und droht direkt mit der Anwendung von Gewalt, sogar mit Atomwaffen, falls die USA, die NATO und die EU die Ukraine weiterhin unterstützen. Vor Kurzem gab die Türkei zu, dass sie Beschwerden aus Moskau über den Verkauf von Bayraktar-Drohnen an die Ukraine erhalten hat.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Kreml fordern wird, die Waffenlieferungen an die Ukraine als Voraussetzung für Friedensverhandlungen einzustellen. Das ist gefährlich, weil es mächtige EU-Länder wie Deutschland oder Frankreich beeinflussen kann, solche Forderungen ernsthaft in Erwägung zu ziehen, obwohl Russland nicht die Absicht zeigt, seine Angriffe auf militärische und zivile Ziele in der Ukraine zu reduzieren.

Abschließend möchte ich an eine alte diplomatische Weisheit erinnern, die von dem französischen Diplomaten François de Callières im XVII. Jahrhundert ausgesprochen wurde. Er hat einmal gesagt, dass ein internationales Abkommen, das den Parteien keinen gegenseitigen Nutzen bringt, nicht lange Bestand haben kann; wenn das Abkommen diese Bedingung nicht erfüllt, ist es überhaupt kein Abkommen und enthält Gründe für seine Kündigung.

Sowohl die bisherigen als auch die aktuellen Handlungen des Kremls sind kein Beweis dafür, dass die Machthaber Russlands an die Grundsätze des internationalen Rechts glauben, geschweige denn an Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land. Moskau nutzt verschiedene Methoden und Instrumente, um Gegner zu spalten und einzuschüchtern, kurzfristige Gelegenheiten zur Vorherrschaft zu schaffen und den Einsatz von Gewalt zu rechtfertigen.

Wenn die westlichen Regierungen ihre Augen vor diesen Tatsachen nicht verschließen und die ukrainische Verteidigung und Widerstandskraft stärken, dann können die Aussichten auf Frieden in Europa gerettet werden, und die Ukraine bekommt eine Chance, diesen Krieg eher früher als später zu beenden.