Nahostkonflikt
"It’s the liberal in democracy, stupid!"
Bei seinem Nahost-Besuch wollte US-Außenminister Antony Blinken eigentlich mit regionalen Partnern von Israel bis Ägypten mehr über globale Fragen wie dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine oder die nukleare Bedrohung aus dem Iran reden. Sein Besuch wurde aber von aufflammender Gewalt im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern überschattet. Am vergangenen Freitag fand der blutigste Terroranschlag seit Jahren statt, bei dem ein einzelner palästinensischer Schütze vor einer Synagoge sieben israelische Zivilsten ermordete und zehn Weitere verletzte. Der Knessetabgeordnete Zvika Fogel aus der rechtsextremen Partei des neuen Polizeiministers Itamar Ben Gvir hatte am Sonntag in der Knesset gefordert, es gäbe nur eine Antwort auf solche Anschläge: „Abriegelung, Abriss, Deportation und Ermordung" der Täter und ihres Umfeldes. Hazem Qassem, Sprecher der islamistischen Terrormiliz Hamas im Gazastreifen, nannte den Anschlag dagegen eine "natürliche Antwort auf die Straftaten der [israelischen] Besatzung”. Er nahm dabei Bezug darauf, dass das israelische Militär direkt zuvor bei einer Operation zur Verhaftung Angehöriger der Terrormiliz Islamischer Jihad in Jenin, Westjordanland, bei einem Schusswechsel neun Palästinenser erschossen hatten.
Viele im Westen erwarteten deshalb von Blinken, dass er nun die Rolle des amerikanischen Krisenmanagers im Nahen Osten übernimmt. Eine Rolle, für die er jedoch weder Instrumente noch einen großen Plan im Gepäck hatte. Er wiederholte zwar das amerikanische Engagement für die Zweistaatenlösung und Ideen zur Befriedung des Nordens des Westjordanlandes. Aber ein halbes Jahr zuvor hatte US-Präsident Joe Biden in Jerusalem deutlich gemacht, dass die Vereinigten Staaten alle Friedensinitiativen unterstützen wollten, diese aber von Israel und den Palästinensern initiiert werden müssten. Biden hatte sich damit davon verabschiedet - wie viele seiner Vorgänger - selbst der amerikanische Friedensbringer werden zu wollen. Er sah die Verantwortung für jede Initiative bei den Beteiligten selbst. Aus dieser grundsätzlichen Haltung heraus durfte Blinken in dem Bereich keine falschen Hoffnungen schüren.
„Lebendigkeit der Zivilgesellschaft“ in letzter Zeit sehr sichtbar
Trotz der Betonung der strategischen Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und Israel wurden die Worte Blinkens nach dem Treffen mit Premierminister Benjamin Netanjahu zur schärfsten Kritik gegenüber Israel seit Bidens Amtsantritt. Blinken betonte, die Allianz sei über gemeinsame Werte definiert. Und als er diese nannte, nahm er recht offenen Bezug zur israelischen Verfassungskrise wegen der angestrebten Rechtsreform der Netanjahu-Regierung. Massendemonstrationen in Tel Aviv, der liberale Oppositionsführer Yair Lapid, Startuper, Volkswirte und Juristen halten die geplante Entmachtung der Gerichte bis zum Höchsten Gericht für einen Angriff gegen den liberalen Kern der Demokratie. Der Philosoph Karl Popper definierte Demokratie kurz wie kein anderer: „Es genügt, wenn eine schlechte Regierung abgewählt werden kann. Das ist Demokratie“. Was aber den Liberalismus in unser heutiges Demokratieverständnis getragen hat, ist, dass es nicht reicht, dass eine Mehrheit eine Regierung ändern kann. Nach liberalem Verständnis müssen Institutionen wie Gesetz und Gerichte die Rechte jedes Einzelmenschen selbst gegen eine Mehrheit schützen.
Blinken betonte gegenüber Netanjahu, dass die gemeinsamen Werte die Unterstützung für Kernprinzipien der Demokratie beinhalten, genauso wie der „Institutionen“. Und dann zählte er auf „inklusive dem Respekt der Menschenrechte, der Gleichbehandlung vor dem Gesetz für alle Menschen, die Rechte von Minderheiten, Rechtsstaatlichkeit, freie Medien und eine robuste Zivilgesellschaft“. Er zählte fast alle Sollbruchstellen des aktuellen Verfassungskonflikts auf. Zu den Massenprotesten fügte er hinzu, dass die „Lebendigkeit der Zivilgesellschaft“ in letzter Zeit sehr sichtbar gewesen sei. Die Aushebelung einer Gleichbehandlung von Palästinensern vor dem Gesetz bis hin zu Aushebelung von Menschenrechten sind ein Kernanliegen der rechtsextremen Bündnispartner von Netanjahu. Damit greifen sie gleichzeitig einen entscheidenden Vorteil Israels im Konflikt mit den Palästinensern an. Moralische Überlegenheit kann Israel daraus ziehen, dass trotz aller Härte im Kampf gegen palästinensische Gruppierungen die eigenen Gerichte auch eigene Verstöße ahnden – wenn auch nicht häufig genug für viele. Der ehemalige Premierminister Ariel Sharon wurde vor Gericht genauso für Kriegsverbrechen verurteilt wie manch einfacher israelischer Soldat.
„Allianz der Demokratie“
Im Westjordanland brüskierte Blinken die Gesprächspartner von der Palästinensischen Autonomiebehörde ebenso. Er erkannte palästinensisches Leid an und erwähnte Zivilisten, die Opfer des israelischen Besatzungsregimes geworden waren, aber er brachte für diese Fragen nicht die erhofften Lösungsangebote mit. Im Gegensatz dazu legte er auch hier das Hauptaugenmerk auf die Innenpolitik. Hatte er bei vergangenen Treffen schon das Ausbleiben von Wahlen angesprochen, ging er hier noch methodischer vor. Mit amerikanischer Hilfe wollte er dazu beitragen, die Grundvoraussetzungen für eine liberale Demokratie zu schaffen. Denn vor Wahlen ist es für die Verteidigung von Individualrechten wichtiger, Grundvoraussetzungen von Staatlichkeit zu schaffen. Das passt zu den drei Grundvoraussetzungen für den Übergang zu liberalen Ordnungen, die die ehemaligen Weltbankberater Douglas North, John Wallis und Barry Weingast identifizieren. Rechtsstaatlichkeit mindestens für die eigene Elite, beständige Organisationen im öffentlichen und privaten Raum sowie eine konsolidierte Kontrolle des Militärs. Blinken betonte insbesondere den Fokus auf die Wiederherstellung der Kontrolle durch die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde im nördlichen Westjordanland. Während Präsident Mahmoud Abbas die Verantwortung ganz auf Israel zu schieben versuchte, wurde damit die entgleitende Kontrolle im Schutz der eigenen Bevölkerung gegen islamistische Terrormilizen wie Hamas und Islamischer Jihad deutlich.
Während die Debatte um die von Präsident Biden beschworene „Allianz der Demokratien“ vorerst aus den Medien durch andere Themen verdrängt wurde, hörte man beim Besuch Blinkens den weiterhin vorhandenen Fokus auf Demokratie und ihren liberalen Kern als Grundvoraussetzung für Frieden und Kooperation. Denn nur eine starke und demokratisch legitimierte Palästinensische Autonomiebehörde, die es schafft, die Rechte der eigenen Bürger zu schützen und eigene Straftäter vor Gericht zu stellen, kann mit Israel auf Augenhöhe verhandeln. Und auch Israel muss den liberalen Kern seines Landes retten, um die eigene Stärke zu bewahren, die Abwanderung von Wirtschaft und Elite zu verhindern und auf die beständige Unterstützung der USA und einer Allianz der liberalen Demokratien zählen zu können. Man kann den Wahlkampfslogan des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton auf die heutige Politik übertragen mit den Worten: „It’s the liberal in democracy, stupid!“ Das sollte auch auf unserer Seite des Atlantiks zum Grundthema deutscher Außenpolitik werden.