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Justizreform
Taiwan: Wenn Laien über Leben und Tod entscheiden müssen

Taiwan

In ihrer Amtseinführungsrede im Mai hat Präsidentin Tsai Ing-wen den Taiwaner*innen ein neues Justizsystem versprochen. Ein System, das transparenter ist und den Willen des Volkes widerspiegelt. Nun hat sie geliefert – aber führt eine größere Bürgerbeteiligung tatsächlich zu fairen Urteilen?

Taiwanesische Richter und Richterinnen standen in den vergangenen Jahren immer wieder für ihre Urteile und deren Begründungen in der Kritik. So zum Beispiel 2017: Ein Bezirksgericht in Taipei ersparte einem Mann nach der Vergewaltigung eines geistig behinderten Mädchens die Gefängnisstrafe, weil er Reue bekundete. Im selben Jahr wurde ein Mann, der seinen Stiefsohn vergewaltigte, zu einer nur vierjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er das Kind dafür bezahlte, während der Vergewaltigung nicht zu weinen und angeblich keine Gewalt anwendete. Nach beiden Schuldsprüchen war die öffentliche Empörung groß.

So groß, dass Präsidentin Tsai Ing-Wen bei ihrer Wiederwahl im Januar dieses Jahres neue Regelungen versprach. Schon da war eine Reform der taiwanischen Justiz längst überfällig. Am 22. Juli wurde schließlich der Citizens Judges Act verabschiedet. Das neue System wird eine stärkere Partizipation der Bürger ermöglichen. Ab dem Jahr 2023 sollen neben drei Berufsrichter*innen sechs zufällig ausgewählte Bürger*innen über das Schicksal der Angeklagten mitentscheiden. Die einzigen Voraussetzungen: Die Bürger*innen müssen älter als 23 Jahre alt sein und mindestens vier Monate im Zuständigkeitsbereich des Gerichtes gelebt haben.

Auf den Laien lastet große Verantwortung. Denn sie sollen in taiwanesischen Gerichten nicht nur über Schuld und Strafmaß entscheiden, sondern auch über Leben und Tod: Taiwan verhängt noch immer die Todesstrafe. Der Katalog der Straftaten, bei welchen dies möglich ist, ist lang: Mord, Vergewaltigung, Entführungen, Drogendelikte sind nur einige. Seit 2003 reduzierte Taiwan die tatsächliche Verurteilung zum Tode jedoch auf Tötungsdelikte. Auch wenn die Zahl der tatsächlichen Exekutionen gering ist und seit den Neunzigerjahren stark zurückging, sitzen momentan noch immer 39 Menschen im Todestrakt. Im April 2020 wurde zuletzt ein 53-jähriger Mann für den Mord an seinen Eltern hingerichtet.

Hoffnungen in die DPP werden enttäuscht

Die Todesstrafe ist nicht mit einem liberalen Wertesystem vereinbar und ist grundsätzlich abzulehnen. Das inhumane Strafmaß passt nicht zu einem sonst so progressiven und demokratischen Umfeld wie Taiwan. Auch deshalb ist die Kritik aus dem Ausland beträchtlich. Bestehende Hoffnungen, dass die regierende Democratic Progressive Party (DPP) die Vollstreckungen der Todesstrafe zumindest aussetzen würde, wurden enttäuscht. Doch angesichts einer hohen Zustimmung zur Todesstrafe innerhalb der Bevölkerung – einer Umfrage zufolge billigen 80 Prozent der Bürger*innen die Möglichkeit der Todesstrafe – zeigt sich die Partei in der Frage nicht beweglich.

Das Strafmaß rückt nun die Etablierung der Laiengerichte in ein anderes Licht. Denn sogar wenn dadurch der Bevölkerung ein stärkeres Mitspracherecht zugeschrieben wird und die Macht der alteingesessenen Richter*innen gebrochen werden könnte: Es müssen Bürger*innen, welche zum ersten Mal einem Prozess beiwohnen, an einem folgenschweren und unumkehrbaren Urteil mitwirken.

Druck führt zu hohen psychischen Belastungen

Das System ist nicht einmalig. Japan führte bereits als Kolonialmacht zwischen 1923 und 1945 ein klassisches Jury-System auf Taiwan ein. Partizipation der Bürger bei Strafprozessen wurde jedoch in beiden Ländern nach dem zweiten Weltkrieg aufgegeben. Seit 2009 urteilen in Japan wieder Laien, doch nicht allein, sondern in Kooperation mit Berufsrichter*innen. Das System wird dort von den teilnehmenden Laienrichter*innen positiv bewertet. Es ist dieses Modell, auf welches sich Taiwan konkret bezieht.

Auch wenn das neue System auf Taiwan erst in mehr als zwei Jahren starten wird, gibt es schon erste Erfahrungswerte. 2018 wurden auf der Insel sogenannte Mock Trials mit Laien durchgeführt, eine Art Testlauf also. Dabei wurden bekannte, den Umständen nach einfach zu verstehende Fälle nachgestellt. In einer Umfrage nach den Prozessen gaben mehr als die Hälfte der Laien an, die Gesetztestexte und Rechtskonzepte, nach denen sie entschieden hatten, nicht vollständig verstanden zu haben. Auch wurden weitere zur Verfügung gestellte Dokumente sowie vorher getroffene Aussagen von Zeugen von einem Großteil der Laien nicht genauer gelesen. Sie verließen sich vielmehr auf die im Gerichtssaal vorgebrachten Beweise und Argumente.

Studien in den USA zeigen zudem, dass Juror*innen bei Strafprozessen in mindestens einem von zehn Fällen falsch entscheiden. Das ist erschreckend, doch wirklich erstaunlich ist es nicht. Denn genau wie in Taiwan müssen die Juror*innen keine besonderen Kenntnisse haben. Sie werden weder juristisch, kriminologisch noch psychologisch geschult. All dieser Druck führt nachgewiesen bei Fällen, wo über den Tod des oder der Angeklagten entschieden wird, zu hohen psychischen Belastungen der richtenden Bürger*innen. Eine Studie in den USA zeigte, dass diese während und nach dem Prozess unter Schlafstörungen, Depressionen und posttraumatischen Störungen litten.

Laien vertrauten dem eigenen Urteil im Testlauf nicht

Nun entscheiden die Bürger*innen Taiwans nicht alleine, sondern mit drei ausgebildeten Richter*innen. Sie sind Teil der Diskussionen und des Urteils, sie können Fragen der Laien zu Gesetzen und Rechtsprinzipien beantworten und Fehlschlüssen entgegenwirken. Die Unsicherheit der Laien wurde bei den Mock Trials auch dahingehend deutlich, dass sie sich an den professionellen Einschätzungen orientierten. In einem Fall änderten zwei Laien ihre Entscheidung nachdem sie die abweichende Entscheidung der Berufsrichter*innen hörten.  Das zeigt, dass sie ihrem eigenen Urteil nicht wirklich vertrauten. Die Stimme der Bevölkerung im Gerichtsaal waren sie nicht.

Die Reform ist auch in Taiwan nicht unumstritten. Die meisten Stimmen fordern jedoch einen direkten Umbau zu einem Jurysystem. Dort würden Laien ganz ohne Expertenrat zum Tode verurteilen können.

 

Zoë van Doren ist Referentin für Asien bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.