Regierungskrise
Kosovo: „Koalition der Hoffnung“ vor dem Aus?
In Kosovo droht der erst am 3. Februar angetretenen Regierung von Premierminister Albin Kurti bereits wieder der Fall. Mitten in der Coronakrise hat ausgerechnet die mitregierende „Demokratische Liga des Kosovo“ (LDK) einen Misstrauensantrag gegen die eigene Regierungskoalition mit Kurtis linksnationaler „Vetevendosje - Selbstbestimmung“ (LVV) eingereicht.
Dabei müssten den von allen guten Geistern verlassenen Regierungspolitikern eigentlich längst die Ohren klingen. Aus tausenden von Fenstern tönt in der Hauptstadt Pristina seit Tagen allabendlich ein ohrenbetäubendes Geschepper. Mit ihren Topf- und Pfannenschlägen machen die entnervten Demonstranten in Anlehnung an die Proteste gegen Serbiens Ex-Autokraten Slobodan Milosevic in den 1990er Jahren ihrem Unmut „gegen persönliche und Partei-Interessen in Zeiten der Pandemie“ Luft: Die Politiker sollten ihre Meinungsverschiedenheiten bei Seite lassen und „gegen die Pandemie kämpfen“, so die einhellige Überzeugung.
Kriegsbeil statt Good Governance
Ob Bosnien-Herzegowinas vertagte Dauerstaatskrise, die ausgesetzten Proteste gegen Montenegros Kirchengesetz oder der heruntergedimmte Streit vor den verschobenen Parlamentswahlen in Serbien und Nordmazedonien: Das Coronavirus hat fast alle Politkonflikte auf dem Balkan vorläufig eingefroren. Nur Kosovos streitbare Politikerkaste hat zur Unzeit das vertraute Kriegsbeil der Selbstzerfleischung ausgegraben. Aus Verärgerung über den Koalitionspartner bläst die bürgerliche LDK zum Regierungssturz.
Die LDK werde von Premierminister Kurti „ignoriert und erniedrigt“, wirft Parteichef Isa Mustafa dem Koalitionspartner die eigenmächtige Absetzung von Innenminister Agim Veliu (LDK) sowie die Zerrüttung der Beziehungen zu den USA vor. Kurti müsse Veliu wieder einsetzen, sich bei der LDK entschuldigen und die US-Forderung nach vollständiger und sofortiger Aufhebung der Strafzölle auf serbische Importe erfüllen: „Die US-Präsenz ist vital für unser Land.“
Tatsächlich hat der Kollisionskurs von Kosovos Kartenhaus-Koalition viele Gründe – und Väter. Schon seit Jahren verbindet die Parteichefs Mustafa und Kurti ein tiefes, gegenseitiges Misstrauen. Kurti hat es dem LDK-Chef Mustafa nie verziehen, dass er nach den Parlamentswahlen 2014 aus dem gemeinsamen Wahlbündnis der damaligen Oppositionsparteien ausscherte und mit der Demokratischen Partei Kosovos (PDK) des heutigen Präsidenten Hashim Thaci eine Regierung bildete. Umgekehrt hat Mustafa die von Kurti im Parlament inszenierten Tränengas-Eskapaden zur Verhinderung des Grenzabkommens mit Montenegro nie vergessen.
Zwar hatten die LVV und LDK in der Opposition in der kurzen Amtszeit des glücklosen Premiers Ramush Haradinaj relativ gut kooperiert. Doch konnten sich die Parteien vor der Parlamentswahl im Oktober nicht auf eine gemeinsame Wahlliste verständigen. Obwohl sie sich im Stimmenstreit gemeinsam dem Kampf gegen die Korruption, für rechtsstaatliche Verhältnisse und der wirtschaftlichen Erneuerung verschrieben haben, war ihre sogenannte „Koalition der Hoffnung“ alles andere als eine leichte Geburt.
Kompromisslos verweigerte Wahlsieger Kurti LDK-Chef Mustafa im zähen Koalitionspoker die geforderte Zusage auf das 2021 freiwerdende Präsidentenamt. Nur mit Mühe vermochten die misstrauischen Partner das von gegenseitigen Vorwürfen überschattete Postengerangel nach vier Monaten im Februar mit der Regierungsbildung zu krönen.
Kredit verspielt und Druck von außen
Mit ihrem Stotterstart verspielten beide Parteichefs die Chance auf einen überzeugenden Neubeginn. Neu-Premier Kurti bestätigte mit seiner unnachgiebigen Verhandlungsführung gegenüber dem fast gleichstarken Partner erneut seinen als Parteichef erworbenen Ruf, zwar prinzipientreu, aber nicht unbedingt ein kompromissfähiger und kommunikativer Teamspieler zu sein. Umgekehrt machte Mustafa bei dem trostlosen Koalitionsgezerre dem Publikum mehr als deutlich, dass die im Wahlkampf verkündete Verjüngung seiner Partei nur ein Lippenbekenntnis war und noch stets die alte LDK-Garde das Sagen hat.
Zu allem Übel setzte der US-Balkanbeauftragte – und US-Botschafter in Berlin – Richard Grenell die fragile Koalition von Beginn an gehörig unter Druck. Unbedingt will der Ellenbogendiplomat vor dem US-Wahlkampf für seinen Dienstherrn Donald Trump einen schnellen außenpolitischen Erfolg einfahren. Dem von ihm angestrebten „Blitz-Deal“ für das erhoffte Nachbarschaftsabkommen zwischen Kosovo und Serbien steht der störrische, eher EU-orientierte Kurti als Spielverderber im Wege: Mit Hilfe der alten Führungsriege der LDK und des um sein politisches Überleben kämpfenden Staatschef Hashim Thaci soll nun der störrische Premier offensichtlich entmachtet werden.
Wenn Pristina nicht sofort und vollständig die 2018 verhängten Strafzölle auf serbische Importe aufhebe, würden die US-Finanzhilfen für Kosovo eingefroren, so die kaum verhüllte Drohung von Grenell. Kurti hat nun zwar die Zölle für Rohstoffimporte aus Serbien wieder aufgehoben. Doch pocht der Premier für die vollständige Aufhebung der Strafzölle auf das Prinzip der Gegenseitigkeit: Auch Serbien müsse die Zollpapiere Kosovos anerkennen und dem Nachbarland endlich direkte Ausfuhren ohne kostspielige Umwege über Nordmazedonien gestatten. In dieser Frage scheint es aber nun Bewegung zu geben. In einer gemeinsamen Presseerklärung mit der deutschen Bundeskanzlerin zu einem Telefonat am 23. März heißt es nun: „Die Bundeskanzlerin begrüßte die Entscheidung des kosovarischen Ministerpräsidenten, diese Zölle nach der Teilaufhebung in der letzten Woche zum 1. April komplett aufzuheben.“
Für Mustafa ist das Tischtuch mit Kurti endgültig zerschnitten: Es sei ein „Fehler“ gewesen, dass er sich auf die Koalition mit der LVV überhaupt eingelassen habe, erklärte der LDK-Chef am Sonntag per Facebook.
Richtungs- und Flügelkämpfe in der LDK
Kompliziert wird die Lage durch Flügelkämpfe in der LDK. Zwar hat die Partei mit den Unterschriften von 46 der 120 Abgeordneten mehr als die erforderlichen 40 Unterschriften für die Einbringung eines Misstrauensvotums im Parlament gesammelt. Doch ob Mustafa seinen Gegenspieler tatsächlich stürzen kann, dürfte nicht nur von der Opposition und den Abgeordneten der Serbischen Liste, sondern auch von der Parlamentsvorsitzenden Vjosa Osmani abhängen.
In Zeiten, in denen Politiker und Regierungschefs auf der ganzen Welt solidarisch und miteinander gegen die Pandemie kämpfen würden, sei es auch für Kosovos Politiker „an der Zeit, sich dem Kampf der Mediziner zur Rettung von Menschenleben anzuschließen“, so die Vorfrau des progressiven LDK-Parteiflügels am Wochenende.
Im LDK-Vorstand hatte Osmani vergangene Woche gegen die Mehrheitsentscheidung für ein Misstrauensvotum gestimmt – und sich dazu auch öffentlich bekannt: In Pristina wird nicht ausgeschlossen, dass sie die Abstimmung als Parlamentsvorsitzende verzögern könnte.
Spekulationen, dass die Richtungskämpfe in der LDK gar zu einer Spaltung der Partei führen könnten, scheinen jedoch verfrüht, auch wenn die Stimmung in der LDK schon einmal harmonischer war. Mustafa hält in der Partei zwar die Zügel fest in der Hand. Bei den Wählern ist der eher als dröge wahrgenommene Vorsitzende im Gegensatz zur jungen charismatischen und umgänglichen Osmani aber alles andere als populär: Sowohl als Bürgermeister von Pristina (2007-2013) wie auch als Premier (2014-2017) musste er seinen Posten nach Wahlschlappen räumen.
Wie sich das Trauerspiel um Kosovos Regierungskoalition fortsetzt, dürften die nächsten Tage zeigen. Laut Verfassung muss das Parlament eigentlich innerhalb von zwei bis fünf Tagen über den am Samstag eingebrachten Misstrauensantrag abstimmen. Sollte dieser eine Mehrheit erhalten, könnte der Präsident das Parlament auflösen. Scheitert das Votum, ist ein erneutes Misstrauensvotum gegen die Regierung erst wieder in 90 Tagen möglich.
Doch möglicherweise könnten Osmani und die LVV die für das Misstrauensvotum nötige Einberufung des Parlaments mit Gesundheitsbedenken verhindern. Die Abgeordneten könnten im Sitzungssaal kaum den nötigen Sicherheitsabstand von zwei Metern einhalten, gibt die stellvertretende Parlamentsvorsitzende Arberie Nagavci (LVV) zu bedenken: Die Einberufung einer Sitzung wäre auch gegenüber den Familien der Parlamentsangestellten und Abgeordneten zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig „unverantwortlich“.
„Diese Regierung stürzt sich selbst zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt."
Die liberale Oppositionsabgeordnete Dr. Mirlinda Sopi-Krasniqi sagte auf Anfrage der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit: „Diese Regierung stürzt sich selbst zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt. Das Land braucht eine Regierung, die den Bürgern in dieser Zeit der Krise dient, in der wir einer globalen Pandemie gegenüberstehen, und nicht eine Regierung, die künstliche Krisen untereinander austrägt.“ Deshalb sei für sie die Position der beiden Koalitionsparteien inakzeptabel. „Ich kann keine Rivalitäten und politischen Kämpfe unterstützen, die auf Rache, Hass und persönlichen Zielen beruhen und den Bürgern der Republik Kosovo schaden.“
Die Menschen hätten viel von dieser Regierung erwartet, die oft als „Regierung der Hoffnung“ bezeichnet wurde, ergänzte der Generalsekretär der „Allianz Neues Kosovo“ (AKR) Vesel Makolli. Wenn es zu keiner Rücknahme des Misstrauensantrags komme, wäre eine neue Regierung im Moment die angemessenere Lösung
Michael Roick, Leiter des Projekts Westbalkan der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Belgrad, Serbien
Thomas Roser ist freier Journalist, er lebt und arbeitet seit 2007 als Balkan-Korrespondent in Belgrad, Serbien