Libanon
Warten auf Gerechtigkeit - Beirut zwei Jahre nach der Explosionskatastrophe
Am 4. August jährt sich die Explosion im Hafen von Beirut mit mehr als 200 Toten und über 6000 Verletzten zum zweiten Mal. Auf Gerechtigkeit warten die Angehörigen der Opfer bis heute – denn die Ermittlungen zu den Hintergründen der Katastrophe werden von der Politik torpediert.
Vier Tage vor dem Jahrestag der Explosionskatastrophe im Beiruter Hafen stürzten Teile des Silos in einer riesigen Rauchwolke ein, dass vor zwei Jahren die Stadt vor noch schwereren Schäden bewahrte. Seitdem stand das Silo als einsames Mahnmal in dem immer noch zerstörten Hafengebiet. Bereits vergangene Woche warnte das zuständige Ministerium vor möglichen Gesundheitsrisiken beim Einsturz. Die Bewohner umliegender Gebiete wurden aufgefordert, Masken bereitzuhalten und Fenster und Türen zu schließen, um sich vor Staub und Pilzsporen zu schützen.
Jeden Tag eine neue Hiobsbotschaft
Die Bewohner der libanesischen Hauptstadt kommen einfach nicht zur Ruhe. Jeden Tag, so scheint es, erreicht sie eine neue Hiobsbotschaft. Seit nunmehr zwei Jahren befindet sich das Land in einer Dauerkrise: Die Wirtschaft liegt am Boden, die Währung verfällt und die staatliche Elektrizitätsversorgung ist fast vollständig zusammengebrochen. Die Nachricht über das einstürzende Silo mag in der Gesamtbetrachtung der Probleme im Land nur eine Randnotiz sein. Doch für die Menschen, die die Explosion miterlebt haben, ist der Einsturz symbolträchtig. Viele wollen das kaputte Gebäude als Mahnmal für die Korruption und Misswirtschaft der korrupten Elite des Landes im Herzen der Hauptstadt erhalten sehen. Zudem fürchten die Familien der Hinterbliebenen, dass bei einem vollständigen Einsturz oder auch Abriss des Silos Beweise am Ort der Explosion verloren gingen. Die Behörden aber schauten untätig zu, als in den vergangenen Wochen immer wieder Feuer ausbrach und so der Einsturz immer wahrscheinlicher wurde.
Die Angehörigen der Opfer warten ohnehin bis heute auf Gerechtigkeit. Direkt nach der Katastrophe hatte Staatspräsident Aoun zwar rasche Ermittlungsergebnisse angekündigt. Doch passiert ist bislang nichts. Der nach der Explosion beauftragte Richter Fadi Sawwan wurde im Februar 2021 unter dubiosen Umständen abgesetzt, sein Nachfolger Bitar musste daraufhin wieder bei null anfangen. Dazu kommt, dass sich wichtige Politiker konsequent weigern, in der Sache befragt zu werden.
Das System könnte ins Wanken geraten
Wie viel politischen Sprengstoff die Ermittlungen inzwischen bergen, zeigte sich im vergangenen Oktober, als es in Beirut zu einer tödlichen Konfrontation zwischen schiitischen und christlichen Milizen mit sieben Toten kam. Die gewaltsame Auseinandersetzung entzündete sich an einer Demonstration gegen Ermittlungsrichter Bitar und erinnerte viele Menschen an die Anfänge des fünfzehnjährigen Bürgerkriegs. Die schiitische Hisbollah-Miliz wirft dem Richter anti-schiitische Tendenzen vor. Insgeheim fürchtet sie aber, dass durch die Ermittlungen die wahren Gründe für die Lagerung des Ammoniumnitrats im Hafen von Beirut zutage kommen könnten. Denn das hochexplosive Düngemittel wird nicht nur zur Bewirtschaftung von Feldern eingesetzt, sondern ist auch ein potenzieller Sprengstoff, der für den Bau von Bomben genutzt werden kann.
Nicht nur die Hisbollah hat viel zu verlieren. Bitars Ermittlungen könnten das gesamte politische System im Libanon infrage stellen. Bisher haben die politischen Akteure trotz aller Differenzen stets verhindert, dass die politische Elite für Missstände Rechenschaft ablegen musste. Doch wenn Bitar die ganze Wahrheit über die Explosion ans Licht bringen sollte, könnte dies das System ins Wanken bringen. Um dies zu verhindern, greifen führende Politiker immer tiefer in die Trickkiste. Vergangene Woche hat das Parlament erst einen Obersten Rat eingesetzt, um Abgeordnete und Minister strafrechtlich verfolgen zu können. Was auf den ersten Blick erfreulich scheint, entpuppt sich in Wahrheit aber als Ablenkungsmanöver. Das neue Gremium ist – wie alle politischen Ämter im Libanon - zwischen den Konfessionen vorsichtig austariert und mit zahlreichen Vetomöglichkeiten ausgestattet. Oppositionsabgeordnete wie der liberale Michel Moawad befürchten, dass es am Ende bloß der Umgehung der richterlichen Untersuchung und des Justizsystems im Allgemeinen diene. So werde ein neues Gremium geschaffen, welches die Ermittlungen von Richter Bitar weiter untergrabe und dafür Sorge, dass es zu keinen weiteren Vorladungen im Zusammenhang mit der Untersuchung zur Explosionskatastrophe komme.
Hoffnung auf Gerechtigkeit
Die Oppositionsparteien und einzelne unabhängige Abgeordnete boykottierten die Abstimmung denn auch. Verhindern konnten sie die Einsetzung des neuen Gremiums aber nicht. Das zeigt auch, dass trotz des überraschend guten Abschneidens der Opposition bei den Parlamentswahlen im Mai 2022 ein grundsätzlicher Wandel der libanesischen Politik noch lange nicht in Sicht ist. Seit der Wahl ist es den etablierten Kräften nämlich immer wieder gelungen, wichtige Posten zu besetzen und so das politische Geschehen weiter zu bestimmen. Die Resilienz des politischen Systems ist allerdings keine Überraschung. Schließlich gehen viele Elemente des heutigen politischen Systems bis ins 19. Jahrhundert zurück und nicht wenige der heutigen Politiker stammen aus Familien, die bereits zu Zeiten der osmanischen Besatzung in der Spitze der Machtpyramide standen. Wer die osmanische Besatzung, die französische Mandatszeit, den libanesischen Bürgerkrieg und die syrische Besatzung überlebt hat, wird seinen Machtanspruch nicht so schnell aufgeben.
Für die Hinterbliebenen der Opfer sind das Geschacher der Politik und die Behinderung der Arbeit des Ermittlungsrichters unwürdig. Viele haben den Glauben an eine Aufklärung der Katastrophe durch den libanesischen Staat verloren. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit haben sie aber nicht aufgegeben. Deshalb versuchen einige von Ihnen jetzt einen anderen Weg: Im US-Bundesstaat Texas verklagen sie die norwegisch-amerikanische Firma TGS ASA auf 250 Mio. US-Dollar Schadenersatz.
TGS ASA ist die Eigentümerin von Spectrum, einem britischen Unternehmen, welches wiederum jenes Schiff charterte, das die 2 750 Tonnen Ammoniumnitrat im November 2013 in den Hafen von Beirut brachte. Laut Anklageschrift vermuten die Familien der Opfer, dass die Firma für den Transport und die unzulängliche Lagerung mitverantwortlich ist. Vor allem aber wollen sie eines: endlich konkrete Erkenntnisse darüber, wer für die Explosionskatastrophe verantwortlich ist – um zumindest einen Hauch von Gerechtigkeit für die Opfer zu erreichen. Dass das Silo im Hafen von Beirut dann noch stehen wird, ist eher unwahrscheinlich.
Kristof Kleemann als Korrespondent für die deutschen Medien
Hier geht es zum Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur.