Veranstaltung
Liberalismus und Verfassung
In das Jahr 2019 fallen zwei große Verfassungsjubiläen – 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung und 70 Jahre Grundgesetz – sowie ein kleineres, nämlich 200 Jahre Konstitution für das Königreich Württemberg. Da Liberale an allen diesen Verfassungen einen mehr oder minder großen Anteil hatten, stand das jüngste Kolloquium zur Liberalismus-Forschung, veranstaltet vom Archiv des Liberalismus gemeinsam mit dem FNF-Landesbüro Baden-Württemberg und der Stiftung Bundespräsident Theodor-Heuss-Haus unter dem Thema „Liberalismus und Verfassung“. Ort war natürlich Stuttgart, wo das älteste dieser Jubiläen seinen Ausgang genommen hatte.
In seiner Begrüßung warf Jürgen Frölich vom Gummersbacher Archiv die Frage auf, ob die allgemein angenommene „besondere Beziehung“ von Liberalen zu Verfassungen zu Recht bestünden, eigene programmatische Aussagen dazu seien allenfalls sporadisch zu finden. Die erste, von Jochen Merkle (Landesbüro Baden-Württemberg) geleitete Sektion widmete sich dem frühen 19. Jahrhundert, wo Hans-Peter Becht (Stuttgart) einen eher kritischen Blick auf die seines Erachtens mit Absicht sehr lückenhafte badische Verfassung warf, die allerdings eine vergleichsweise fortschrittliche II. Kammer vorsah.
Verfassungsarbeit der Frankfurter Paulskirche
Auch der frühe badische Liberalismus war nach Becht eine heterogene „Spaßpartei“, die ihr Ansehen weniger ihrer Politik als den mit Alkohol und Gesang begangenen Festen, zu Ehren der Verfassung etwa, verdankte. Im Gegensatz dazu war die ein Jahr jüngere württembergische Konstitution viel stärker aus einer echten „Verfassungsarbeit“ hervorgegangen, in der sich altständische mit frühliberalen Elementen vermischten. Erst um 1830 überwogen dann, so Roland Gehrke (Stuttgart), in den Landständen eindeutig die Liberalen mit Ludwig Uhland an der Spitze. Die drei mitteldeutschen Verfassungen der 1830er Jahre in Sachsen, Kurhessen und Hannover verglich Ewald Grothe (ADL Gummersbach). Sie waren im Vergleich zum süddeutschen Konstitutionalismus weit stärker liberal geprägt und vor allem bei der Partizipation der Stände fortschrittlicher konzipiert, hatten aber schwere Verfassungskonflikte zur Folge, die dann eher zugunsten der Monarchen ausgingen. Der sogenannten „Reichsgründungszeit“ wandte sich die zweite, von Birgit Bublies-Godau (Dortmund) moderierte Sektion zu. Thesenförmig zugespitzt sprach dabei Frank Möller (Greifswald) über die Verfassungsarbeit der Frankfurter Paulskirche, in der romantische Reichsvorstellungen mit der Utopie einer germanischen Freiheit einerseits und auf der anderen Seite die rationale Suche danach, wie die revolutionären Irrwege Frankreichs zu vermeiden seien, zusammengeflossen seien. Möller sah in der Anfang 1849 verabschiedeten Reichsverfassung das „zwingende Ergebnis der Revolution“, das die weitere Entwicklung Deutschland indirekt stark vorprägte. Eine weite, lebhaft diskutierte Tour d’Horizont bot Martin Otto (Hagen) zum Thema „Die Liberalen und die Bismarckschen Verfassungen von 1867 und 1871“: Entgegen der traditionellen Einschätzung sei die Verfassung des Kaiserreiches doch viel stärker ein liberal-konservativer Kompromiß gewesen, der viele Chancen zur Liberalisierung eröffnete, und man könne darüber diskutieren, ob Bismarck „ein Liberaler wider Willen“ gewesen sei.
Am Abend hielt die stellvertretende Stiftungsvorsitzende Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im überfüllten Theodor-Heuss-Haus einen öffentlichen Vortrag über „70 Jahre Grundgesetz – Brauchen wir ein Update?“. Sie ging dabei die verschiedenen Themenfelder wie Digitalisierung, Kinderrechte, Meinungsfreiheit etc. durch, wo in jüngster Zeit Ergänzungen im Grundgesetz gefordert wurden, und kam zu dem Schluß, dass fast überall die bestehenden Regelungen ausreichend Schutz böten. Einzig die Stellung des Bundesverfassungsgerichts sei besser abzusichern, um nicht möglicherweise einmal eine Entwicklung wie in Polen zu bekommen. Die ehemalige Bundesjustizministerin warnte vor einer „Überfrachtung des Grundgesetzes“, mit der verfassungspolitischen Entwicklungen blockiert werden könnten. Wichtiger als permanente Updates sei die „gelebte Verfassungswirklichkeit“.
Im Anschluss wurde zum 54. Mal der Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnispreis für Beiträge zur Erforschung der Grundlagen und Geschichte des Liberalismus in Anwesenheit der achtzigjährigen Cousine des Namensgebers, Karla Kellner, verliehen. Die Auszeichnung erhielt in diesem Jahr der Münchner Historiker Desiderius Meier für seine (Teil-)Biographie von Hermann Dietrich (1875-1954), Reichsminister, Vizekanzler und Vorsitzender der Deutschen Staatspartei.
Verfassungspolitik der DDP
Die Fortsetzung des Kolloquiums am nächsten Morgen wandte sich zunächst unter Leitung von Wolther von Kieseritzky (ADL) der Weimarer Republik zu. Jörg-Detlev Kühne (Hannover) beleuchtete auf der Basis seiner jüngst erschienenen voluminösen Untersuchung zur Entstehung der Weimarer Reichsverfassung die Verfassungspolitik der linksliberalen DDP, für die er neue Quellen ausfindig gemacht hatte. Deren Fraktion wäre sozial und politisch reichlich heterogen gewesen und hätte sich zwar auf einen anti-sozialistischen und anti-nationalistischen Gesamtkurs, aber weniger auf klare Verfassungsprämissen verständigen können. So lag die Verfassungspolitik der DDP vornehmlich in der Hand von Einzelpersönlichkeiten wie Conrad Haußmann und Erich Koch-Weser, aber nicht beim innerparteilich umstrittenen Innenminister Hugo Preuß, der auch der Fraktion nicht angehörte.
Die Absage an den Versailler Friedensvertrag durch die Reichsregierung ging auf den Druck von Seiten der DDP zurück; dieser „Versteifung“ auf die Friedensfrage verhinderte aber liberale Akzentsetzungen auf anderen verfassungspolitischen Feldern. Jens Hacke (Hamburg), der ebenfalls jüngst eine gewichtige Studie zur Verfassungsdiskussion der 1920er Jahre vorgelegt hat, fragte nach dem Spannungsverhältnis dort zwischen Liberalismus und Demokratie. Dies äußerte sich für ihn vor allem darin, dass die Weimarer Reichsverfassung eher konstitutionell als demokratisch gewesen und auf ein System mit elitärer Führung hinausgelaufen wäre, bei dem den Parteien die Rolle der Legimitationsbeschaffer zufallen sollte und alles unter dem Ziel, die nationale Einheit zu bewahren, gestanden hätte. Die damaligen verfassungspolitischen Diskurse unter Liberalen zeigten aber, dass man sich den Gefährdungen und Potentialen der Demokratie sehr bewußt gewesen sei. Das abschließende Podium zur Nachkriegszeit stellte zunächst zwei „Väter des Grundgesetzes“ in den Mittelpunkt: Ernst Wolfgang Becker vom Stuttgart Heuss-Haus fragte nach den Nachwirkungen, die die Beschäftigung mit den vorhergehenden Verfassungswerken für die Politik von Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat gehabt hatte. Er konstatierte eine klare Fortentwicklung früherer Positionen unter teilweiser Anknüpfung an die Errungenschaften von 1849 (Grundrechte) und 1919 (Verhältnis Staat-Kirche): Der Parlamentarismus wurde dann aber von Heuss 1948 ebenso aufgewertet, wie er nun Wert auf eine „attraktive“ Präambel legte. Allerdings schienen ihm Bürgertugenden wichtiger als Grundgesetz-Paragraphen, entsprechend wenig thematisierte er in seiner Amtszeit die neue Verfassung. Ähnlich zurückhaltend, wenn auch aus anderen Gründen war die Einstellung von Thomas Dehler zum Grundgesetz, wie Udo Wengst (München) zeigte. Für diesen standen die deutschen Nachkriegsverfassungen einschließlich des Grundgesetzes unter dem gesamtdeutschen Vorbehalt. Stärker noch als bei Heuss wirkte bei dem bayrischen Liberalen die Skepsis gegenüber plebiszitären Elementen nach, die er nach klassisch-liberaler Manier durch mittelbar legitimiertes „Führertum“ einhegen wollte. Obwohl eher unzufrieden akzeptierte Dehler dann doch das Ergebnis der Verfassungsberatungen und kämpfte – vergeblich – für die Annahme des Grundgesetzes durch den bayrischen Landtag.
Das politische System muss von der Gesellschaft her gedacht werden
Den Part der „bürgerlichen“ Parteien LDP und CDU bei den Verfassungsberatungen in der SBZ untersuchte Hermann Wentker (Berlin). Diese waren durch ein Vorpreschen der SED und die Uneinigkeit ihrer Counterparts gekennzeichnet, die zwar ähnlich von liberalen Verfassungsprinzipien ausgingen, aber unterschiedliche Strategien verfolgten. So konnte die SED nicht nur CDU und LDP immer wieder gegeneinander ausspielen, sondern sie taktierte auch geschickte zwischen der Länder- und der Zonenebene und setzte sich in allen Belangen mit z. T. eindeutig illiberalen Regelungen durch, während für ihre Opponenten letztlich nur die Hoffnung auf eine baldige gesamtdeutsche Verfassung blieb. Am Schluß und quasi als Zusammenfassung machte sich Frieder Günther (Davis, Kalifornien) auf die Suche nach der liberalen Verfassungskultur in der Bundesrepublik, für die er eine Reihe von Prämissen festsetzte, darunter den Grundsatz, dass das politische System von der Gesellschaft und nicht vom Staat her gedacht werde. In den Mittelpunkt rückte er dabei das Bundesverfassungsgericht und dessen Entwicklung, in dem sich für die Zeit bis 1990 die Durchsetzung eines liberalen Verfassungsverständnisses am besten widerspiegele. Dessen allmähliche Ausbildung erkläre auch die wachsende Popularität des Grundgesetzes, welche zu Zeiten von Dehler und Heuss noch nicht bestanden habe. In seinem Schlusswort zog Moderator Jürgen Frölich das vorläufige Fazit, dass zwar nicht für den gesamten behandelten Zeitraum, wohl aber für die Gegenwart man durchaus von einer besonderen Beziehung zwischen Liberalen und Verfassung sprechen könne, wie es auch der Vortrag am vorherigen Abend sehr nachdrücklich unter Beweis gestellt habe.
Alle Vorträge sollen im Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 2020 abgedruckt werden.