EN

Türkei
"Naher Osten und die Türkei bleiben ganz oben auf der Tagesordnung"

Streiflichter zum türkischen Einmarsch in Nordsyrien
Soldaten gehen an der Grenze zwischen der türkischen Stadt Akcakale und der syrischen Stadt Tall Abyad in einem Aufenthaltsbereich für die türkischen Streitkräfte und die türkisch unterstützte syrische Nationalarmee und warten auf ihren Einsatz.
Soldaten an der Grenze zwischen der türkischen Stadt Akcakale und der syrischen Stadt Tall Abyad warten auf ihren Einsatz. © picture alliance/Anas Alkharboutli/dpa

Die Einschätzungen des (bereits dritten) türkischen Einmarsches ins bürgerkriegsgebeutelte Nordsyrien könnten kaum kontroverser ausfallen – kontrovers zwischen Ankara und dem überwiegenden Rest der Welt. Während die USA ihren unter der Trump-Administration etablierten außenpolitischen Zick-Zack-Kurs beibehalten, hat die Europäische Union (EU) recht eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sie die Berufung der Türkei auf Art. 51 der UN-Charta, der Staaten ein Recht auf Selbstverteidigung einräumt, im konkreten Fall für irrig und die Invasion des NATO-Mitglieds in syrisches Territorium daher für unrechtmäßig hält. Ankara hingegen hält weiterhin an seiner Interpretation der Lage im bisher kurdisch beherrschten Nordosten Syriens fest: Man müsse sich vor Ort gegen Terroristen verteidigen und zugleich die geplagten Bewohner der Region von terroristischer Unterdrückung befreien.

Fragen zu dieser verzwickten Gemengelage in einer Region, in der neben der Türkei auch Russland, der Iran und die USA aktiv an Kriegshandlungen beteiligt sind, beantwortet für „freiheit.org“ der scheidende Leiter des Türkei-Büros der Stiftung, Dr. Hans-Georg Fleck.  

Nach dem Einmarsch der Türkei in Nordsyrien zeichnen Helfer ein dramatisches Bild von der Lage der Menschen in der Region. Politiker in Deutschland kritisieren den türkischen Präsidenten Erdoğan scharf und werfen ihm einen Bruch des Völkerrechts vor. Wie wird der Einmarsch in der Türkei wahrgenommen?

Recep Tayyip Erdoğan ist ein gewiefter Machtpolitiker. In einer innenpolitischen Phase, in der Wirtschaftskrise, dysfunktionale Ein-Mann-Herrschaft und offenkundige Wählermüdigkeit deutliche Kratzspuren am über lange Zeit unbesiegbar erscheinenden Präsidenten hinterlassen haben, geht er zur Offensive über – der alten Maxime folgend, wonach Angriff die beste Verteidigung sei. So ist es Erdoğan durch den Einmarsch gelungen, die große Masse der ethnisch türkischen Mehrheitsbevölkerung der Türkei einmal mehr hinter sich zu versammeln, und zugleich den Spaltpilz ins oppositionelle Lager zu pflanzen.

Wenn es um die terroristische Bedrohung durch die kurdische PKK und die Drohkulisse einer Aufspaltung der Türkei durch – laut Erdoğan – finstere fremde Mächte geht, wissen politische Führer in der Türkei stets die überwiegende Mehrheit der Bürger und Wähler hinter sich. Die Verteidigung des Vaterlandes gegen den äußeren (und partiell inneren) Feind schweißt zusammen; wer sich hier dem "Volkswillen" durch kritische oder defätistische Äußerungen entgegenstellt, gerät ins politische und gesellschaftliche Abseits und macht sich aus Sicht Erdoğans mit den Vaterlandszerstörern gemein.

Auch viele, die Erdoğan eigentlich kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, schwenken nun in eine national bis nationalistisch getönte Hochstimmung ein. Da bleibt für eine Kooperation der oppositionellen Kräfte, die auch die – in diesen Tagen immer wieder politisch verfolgte – Kurdenpartei HDP einschließt, und die sich bei den jüngsten Kommunalwahlen im Lande so eindrucksvoll bewährt hatte, kein Raum. Im Winter 2018 hatte der Protest gegen die damalige türkische Invasion im syrischen Nordwesten ("Operation Olivenzweig") noch zu zahlreichen Verhaftungen aufmüpfiger Friedensdemonstranten geführt. Jetzt bestimmen nicht Proteste, sondern die auf dem „Fußball-Schlachtfeld“ salutierenden Kicker der türkischen Nationalmannschaft das öffentliche Bild.

Kein Wunder also, dass kritische Stimmen aus dem Ausland als erneuter Ausdruck des Unverständnisses gegenüber den legitimen Sicherheitsinteressen der Türkei kategorisiert werden. Im weit häufigeren Falle dienen sie Erdoğan jedoch als erneuter Beleg für die Missgunst des "Westens" gegenüber der neuen, unabhängigen, sich auf ihre islamischen und osmanischen Traditionen besinnenden Türkei – einer Türkei, der autoritäre, islamo-zentrische und sogar nukleare Machtspiele in diesen Tagen viel wichtiger scheinen als etwaige EU-Anschlusspläne oder auch die Mitgliedschaft in der NATO.

Noch immer bestehen Unstimmigkeiten über die Größe des Gebietes, aus dem sich die kurdischen Milizen zurückziehen sollen. Was erwarten Sie? Wird die Türkei ihre Offensive nach dem Abzug der Kurden beenden oder gehen die Kämpfe weiter?

Präsident Erdoğan hat die klare Devise ausgegeben: Die terroristische Gefahr an der mehr als 900 km langen Grenze zu Syrien in Gestalt der kurdischen "Volksverteidigungskräfte" (YPG) beziehungsweise der von ihnen getragenen "Syrischen Demokratischen Kräfte" (SDK) – also den Kräften, die dem Menschen und Kultur mordenden "Islamischen Staat" Einhalt geboten haben – müsse ein für alle Mal ausgemerzt werden. Heute geht es darum, sie aus einer circa 30 Kilometer breiten "Sicherheitszone" vom östlichen Euphrat-Ufer bis zur syrisch-irakischen Grenze zu entfernen, um dort – so die türkische Sprachregelung – den sich als "kurdisch" gerierenden Terrorismus der PKK/YPG zu verdrängen, die "Kurdifizierung" arabischer Siedlungsräume zurückzudrehen und eine neue Heimat für in der Türkei aufgenommene syrische Flüchtlinge zu schaffen. Von einer Million dieser Flüchtlinge ist die Rede, die zwar in ihrer überwiegenden Mehrheit aus anderen Teilen Syriens stammen, aber nun diese neue, von auftragshungrigen türkischen Baukonsortien zu schaffende und aus EU-Mitteln zu finanzierende Heimstatt in den vom PKK/YPG-Terrorismus befreiten Territorien Nordsyriens finden sollen. Wer sich dieser Erdoğan’schen "Problemlösung" durch Kritik am türkischen Vorgehen verweigert, der weckt den Zorn des Präsidenten, der wiederum keine Sekunde zögert, dem aus seiner Sicht weichen und degenerierten Europa mit der nächsten "Flüchtlingswelle" zu drohen.

Aus Sicht des Erdoğan-Regimes ist beides alternativlos: der Sieg über den vom Westen böswillig ignorierten PKK/YPG-Terrorismus sowie die Rückführung einer beträchtlichen Zahl von syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, die in der Türkei zum Problem für die Regierung geworden sind. Deshalb wird sich das AKP-Regime nicht so rasch davon abbringen lassen, Fakten zu schaffen. Wir kennen das aus der Region zur Genüge: Wer rechtswidrig Fakten schafft, setzt sich nicht zusätzlich ins Unrecht, sondern bekommt am Ende sogar oft Recht!

Heute steht die Forderung nach einer – aus türkischer Sicht legitimen – 30-Kilometer-Schutzzone in Nordsyrien im Raum. Wenn dieser Interpretation der Lage widerspruchslos Folge geleistet würde, wer kann garantieren, dass Ankara morgen nicht eine "legitime" Sicherheitszone von 60 km Breite als "unverzichtbar" erklären wird? Wohlgemerkt: Es geht hier nicht (oder noch nicht) um türkischen, osmanisch begründeten Territorialerwerb in Syrien. Aber es geht um die Frage, wo der "Politik der Stärke" und ihren autoritären Protagonisten Einhalt geboten wird.

Die USA ziehen ihre Truppen ab - und die EU schaut bislang machtlos zu, wie die Despoten Putin, Erdogan und Assad das Bürgerkriegsland unter sich aufteilen. Erleben wir eine Kapitulation des Westens? Spielt Europa überhaupt noch eine Rolle und, wenn ja, welche konstruktive Rolle könnte/sollte es bei der Lösung des Konflikts spielen?

Wenn man den beachtlichen Macht- und Einflusszuwachs Russlands nicht nur in Syrien, sondern in der gesamten arabischen Welt – wie es gerade die Putin-Visite in den Vereinigten Arabischen Emiraten unter Beweis gestellt hat – als Ausdruck für ein Zurückweichen des Westens versteht, dann findet man in Syrien reichlich Argumente. Die wetterwendische und prinzipienfreie Außenpolitik der USA in Syrien und der unethische Umgang mit den Kurden hat die EU vor Herausforderungen gestellt, denen sie sich nicht mit "vornehmer Zurückhaltung" entziehen kann. Das hat uns in Deutschland der Herbst 2015 und die bis heute anhaltenden innenpolitischen Verwerfungen in dessen Folge sehr deutlich gelehrt. Der Nahe Osten und die Türkei bleiben – ob wir es wollen oder nicht – ganz oben auf der politischen Tagesordnung.

Die EU hat bisher keine wesentliche Rolle im Nahen Osten gespielt. Das hat sich in der Vergangenheit besonders schmerzlich im israelisch-palästinensischen Konflikt gezeigt, als die EU zu keiner Zeit bereit war, die von ihr als einzig sinnvoller Kompromissweg erkannte "Zwei-Staaten-Lösung" gegen die Partikularinteressen der Beteiligten durchzusetzen. Heute schwelt ein anderes Pulverfass im Nahen Osten weiter, dass nicht nur unsägliches Leid über die Menschen in Syrien und Irak gebracht hat, sondern auch zur Stärkung politischer Extremisten und zur Diskreditierung der westlichen Demokratie in den Augen vieler beigetragen hat.

Bisher hatte sich die EU auch hier nicht handlungsfähig gezeigt. Der aktuelle Vorschlag unserer Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ist da – in aller ihm anhaftenden Unvollkommenheit – geradezu ein Schwertschlag durch den gordischen Knoten: Die EU muss Initiative und dann auch Handlungsfähigkeit beweisen! Sollte ihr das tatsächlich gelingen, wird kaum jemand überraschter sein als Recep Tayyip Erdoğan und die ihn umgebende Entourage islamisch-osmanisch gesinnter "Neutürken" selber. Sie haben das "europäische Seniorenheim" schon längst abgeschrieben, sehen in ihm allenfalls den probaten Zahlmeister für eigene aberwitzige Zukunftspläne, wie die Zwangsansiedlung sunnitisch-arabischer Syrer in kurdisch dominierten Gebieten Syriens, quasi als arabische Pufferzone gegen Aspirationen kurdischer Staatlichkeit.

Die Türkei wird daher kaum in Begeisterungsstürme ausbrechen, falls Europa Handlungswillen zeigen sollte. Ihre neuen "Freunde" im Astana-Prozess – Russland und der Iran – werden auch mehr als überrascht sein, hatten sie doch vieles auf ihrem Schirm, aber nicht die EU. Eine "europäische Friedenstruppe in Nordsyrien" – sollte sie denn tatsächlich zustande kommen – wäre ein nachdrückliches Zeichen, dass Europa mehr ist als der geliebte-ungeliebte Fluchthafen für Millionen Migranten aus "failed states". Es war ein Sozialdemokrat, der einst davon sprach, dass das europäische Werteensemble "am Hindukusch" verteidigt werde. Diese Idee verfing damals nicht. Vielleicht schaffen wir es heute zu erkennen, dass uns diese Verteidigungslinie immer dichter auf den Pelz rückt – zu dicht, um den Herausforderungen länger tatenlos ins Auge zu sehen.