Brexit
Noch alle Szenarien denkbar
In Brüssel haben EU-Kommission und britische Regierung eine Einigung errungen. Diese hat jedoch nur geringe Erfolgsaussichten, im britischen Unterhaus zu bestehen. Die Opposition ringt derweil sowohl mit sich als auch um ein zweites Referendum.
In der Grafschaft Kent plant und baut man für den no deal. Ab dem 28. Oktober tritt hier die „Operation Brock“ in Kraft. Lastwagen auf dem Weg zwischen London und dem Kanalhafen Dover müssen sich dann an militärisch ausgeklügelte Geschwindigkeitsbegrenzungen und Sonderrouten halten, um den zu befürchtenden Verkehrsinfarkt in Südengland zu verhindern. Schon seit Februar kommen Autofahrer auf der Autobahn M 20, der Hauptverkehrsader auf dieser Route, in den Genuss eines zusätzlichen Fahrbahntrenners. Dieser soll ab November sicherstellen, dass sich auf der einen Seite die LKWs stauen können, während auf der anderen der Verkehr im Baustellenmodus weiter fließen kann. Das Opfer dieser Vorkehrungsmaßnahme ist der Standstreifen – Brexit bedeutet eben eine Reise ohne Pufferzone, nicht nur in der Politik, sondern auch im Straßenverkehr.
Ob die No deal-Maßnahmen gebraucht werden, steht auch 14 Tage vor dem aktuellen Austrittsdatum in den Sternen. Nach mehreren Nachsitzungen und Ultimaten, haben sich die Verhandlungsführer der britischen Regierung und der Europäischen Kommission gestern auf ein Austrittsabkommen geeinigt, welches auch die Zustimmung des Europäischen Rates gefunden hat.
EU-Kommissionspräsident Juncker freute sich über den letztendlich doch überraschenden Durchbruch und sagte „wo ein Wille ist, ist auch ein Dea.l“ Boris Johnson ließ verlauten, man habe einen „großartigen, neuen Deal mit dem wir die Kontrolle zurück gewinnen.“ Sowohl Boris Johnson als auch Jean-Claude Juncker versuchten darüber hinaus zu betonen, dass die Abgeordneten des britischen Unterhauses und des Europäischen Parlaments nun die Wahl zwischen dem neuen Deal und einem unkontrollierten Brexit mit potentiell katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Folgen hätte.
Das ist jedoch eine unzutreffende Vereinfachung der Situation, motiviert durch das beidseitige Bestreben dem nicht enden wollenden Brexit-Chaos ein Ende zu bereiten und den Druck auf die Abgeordneten in beiden Parlamenten zu erhöhen. Denn beide Seiten wissen, dass Boris Johnson vom britischen Unterhaus per Gesetz dazu verpflichtet ist, eine Fristverlängerung zu beantragen, sollte er bis Samstagabend keine Mehrheit für das Abkommen finden. Beide Seiten wissen auch, dass die EU-Staats und Regierungschefs einem solchen Antrag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zustimmen werden. Wer möchte schon allein verantwortlich sein, für die kaum absehbaren Konsequenzen eines vertraglosen Ausscheidens der Briten aus der EU?
Die Verhandlungsführer aus London und Brüssel wissen auch, dass die Zustimmung der beiden Parlamente alles andere als selbstverständlich ist. Während das neue Europäische Parlament sich zuletzt zwar immer unberechenbar gezeigt hat, lässt sich kaum vorstellen, dass dieses einem geregelten Austritt in letzter Instanz einen Stock in die Speichen wirft. Sehr wahrscheinlicher ist dagegen, dass dem neuen Austrittsabkommen das gleiche Schicksal bevorsteht, wie dem ersten seiner Art, das von der damaligen Premierministerin Theresa May verhandelt und anschließend nicht weniger als dreimal vom House of Commons abgelehnt wurde.
Das Unterhaus tagt am morgigen Samstag, erstmal seit dem Falkland-Krieg an einem Wochenende, und wird am Ende des Tages über das neue Abkommen abstimmen. Eine Ablehnung gilt unter Beobachtern in London als so gut wie sicher. Um eine Chance zu haben, hätte Boris Johnson die Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) und ihrer zehn Abgeordneten benötigt. Diese hat jedoch stets eine Zollgrenze in der Irischen See abgelehnt und fühlt sich durch Johnsons Zugeständnisse an Brüssel verraten. Neben der DUP sprechen die Scottish National Party (SNP), die Liberal Democrats als klar erklärte Brexit-Gegner und eine Mehrheit der Labour-Abgeordneten gegen den Deal aus.
Boris Johnson braucht 319 Stimmen, um sein Abkommen durch das Unterhaus zu boxen. Er kann sich aber nur der Unterstützung von 259 Abgeordneten aus seiner eigenen Tory-Fraktion sicher sein. Um eine Mehrheit zu erreichen wird er versuchen, Abweichler und Brexit-Befürworter bei Labour sowie eine Gruppe von ehemals eigenen Abgeordneten zu überzeugen, die er erst vor einem Monat aus seiner eigenen Fraktion geworfen hatte. Er wird 57 von insgesamt 72 Parlamentariern aus diesen beiden Gruppen überzeugen müssen. Ein Erfolg scheint vor diesem Hintergrund mehr als ungewiss.
Die Zustimmung des britischen Unterhauses werden aber auch die Verhandlungsführer und die Mitglieder des Europäischen Rates für wenig wahrscheinlich halten. Die Europäische Union und auch die britische Regierung werden aber auf jeden Fall als Sieger aus dieser Situation hervorgehen. Denn immerhin ist es ihnen gelungen, sich auf eine konkrete Lösung zu einigen. Sollte diese Einigung im britischen Parlament nicht bestehen, wird ihnen nicht die Verantwortung für einen unkontrollierten Brexit oder für eine Verlängerung der unendlichen Brexit-Geschichte zugeschrieben werden.
Boris Johnson wird behaupten, alles getan zu haben, um sein Versprechen, das Vereinigte Königreich am 31. Oktober aus der Europäischen Union zu führen, zu halten. Er hat dieses Versprechen so häufig und so eindringlich wiederholt, dass ihm ein Einbiegen auf den politischen Standstreifen einer Verlängerung eigentlich ebenso verwehrt bleibt, wie den Autofahrern auf der M 20. Vielleicht werden die Wähler ihm dies aber verzeihen, wenn es ihm gelingt, dem Parlament die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Letzteres wird sich jedoch wehren. Bereits in der nächsten Woche ist eine Abstimmung über ein zweites Referendum denkbar, initiiert durch die Liberal Democrats. Schon dieses Wochenende werden mehr als eine Million Menschen zu einer Demonstration für ein people’s vote in London erwartet.
Damit sind auch 14 Tage vor dem offiziellen Austrittsdatum noch alle Szenarien denkbar. Sicher ist nur, dass es auf der M 20 zwischen London und Folkestone auf absehbare Zeit keinen Standstreifen geben wird.
Sebastian Vagt arbeitet als European Affairs Manager im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit