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Eine Frau an der diplomatischen Front
Der Rechtsexpertin machte den Weg für die ukrainische Menschenrechtsgesetzgebung frei
“Als Frau erlebe ich in meinem Beruf keine Benachteiligungen”, antwortet Valeriia Lutkovska auf die Frage, wie es ist eine Frau zu sein, die über die Freilassung von Gefangenen auf der besetzten Halbinsel Krim verhandelt oder für die Verbesserung der Bedingungen im ukrainischen Strafvollzug kämpft. “Für mich geht es um Menschenrechte – und das sollen keine leeren Worte sein, sondern Standards in jedem Bereich unseres Lebens. Und jeder weiß, wer ich bin und wofür ich stehe. Also nein, ich würde nicht sagen, dass es mit schwer fällt. Frauen, die im Bereich der Menschenrechte arbeiten wollen, möchte ich Folgendes sagen: Wenn ihr beruflich vorankommen wollt, müsst ihr euch einen Panzer zum Schutz anlegen. Ihr müsst das Ziel im Auge behalten und euch nicht dafür interessieren, wie die Leute eure Kleidung, Nägel oder Frisur finden: euer persönliches Ziel ist wichtiger als die Meinung anderer.”
Lutkovskas Worte spiegeln sicherlich ein Ideal wider, in dem sich ein Mensch jenseits des Geschlechts etablieren kann. Auch ihre bewusst gewählte Sprache ist ein Ausdruck dafür (Lutkovska verfügt über ausgezeichnete Englischkenntnisse, die sie während ihrer langen diplomatischen Karriere perfektioniert hat); während Wikipedia sie immer noch als Ombudsfrau listet, bezeichnet sie sich selbst als Ombudsperson. Ihr Leben und ihre Karriere sind eine Beispiel dafür, dass Klischees und vorgefertigte Denkmuster keinen Anklang finden. Und sie macht das auf diplomatische Art und Weise deutlich, indem sie die Regeln unseres Gesprächs ohne kunstvolle Rhetorik mit Nachdruck und doch sanft durchsetzt.
Eine glanzvolle diplomatische Karriere
Während des Übergangs zur Demokratie in der Ukraine zog Lutkovska ihre Tochter mit Hilfe ihrer Mutter auf und schaffte es, zwei Hochschulabschlüsse zu erwerben: Philologie und Jura. 1999 nahm sie ihre Arbeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auf. Sie war Leiterin des nationalen Büros für Fragen der Europäischen Menschenrechtskonvention im ukrainischen Justizministerium. Sie bekräftigt, dass sie sich seit langem für Menschenrechte interessiert und dass sie in ihrer Amtszeit dazu beigetragen hat, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.
Damals fehlten in der Ukraine die für die Vollstreckung von EGMR-Urteilen erforderlichen besonderen Rechtsvorschriften, was bedeutete, dass das europäische Recht von den nationalen Gerichten der Ukraine nicht als Rechtsquelle herangezogen werden konnte. Valeriia Lutkovska beschloss, dass sich dies ändern musste. Trotz der Schwierigkeiten gelang es schließlich, die beiden Systeme zu harmonisieren, und heute verstehen und wenden viele Richter diese Gesetze im Einklang mit der europäischen Rechtsprechung an.
2012 wurde Lutkovska zur Ombudsperson der Ukraine für Menschenrechte gewählt, ein Amt, das sie bis 2018 innehatte. Sie beschreibt diese Zeit als die sechs wichtigsten Jahre sowohl für ihre berufliche Laufbahn als auch für die Menschenrechte in der Ukraine. 2013 erfasste die Maidan-Bewegung die Ukraine, nachdem pro-europäische Gesetze auf Druck Russlands blockiert worden waren. Weniger als ein Jahr später annektierte die Russische Föderation die ukrainische Halbinsel Krim, was einen internationalen Aufschrei auslöste und den anhaltenden Krieg in dieser und in der Donbass-Region anheizte. “Es ist sehr schwierig, derjenige zu sein, der die Anwendung des Verfassungsrechts in besetzten Gebieten kontrollieren soll”, sagt sie.
Menschenrechte in Kriegszeiten
Dieser Krieg hat viele Opfer gefordert. Menschen wurden vertrieben, gefoltert oder getötet, sagt Lutkovska. Eines der wichtigsten Themen in ihrer beruflichen Laufbahn, wie sie erklärt, war die Festlegung internationaler Standards für die Arbeit von Ombudsleuten in Kriegsgebieten. Wie es sich eigentlich für jeden Ombudsmann gehört. Als sie ihr Amt antrat, gab es keine internationalen Verträge zur Regelung der Aufgaben von Ombudsleuten und Entscheidungen mussten von Fall zu Fall getroffen werden. Lutkovska arbeitete an der Schaffung eines internationalen Standards und eines Instruments, das von der Global Alliance of National Human Rights Institutions (GANHRI) verwendet wird, einer Organisation, die Menschenrechtsinstitutionen bei der Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen unterstützt. 2018 erklärte die GANHRI, sie wolle die von Lutkovska entwickelten Standards als internationale Norm für die Arbeit von Ombudspersonen festlegen.
Als der Krieg auf der Krim begann, verlor die Ukraine viele Menschen im Strafvollzug, da sich 30% ihrer Gefängnisse nun in einem Gebiet befanden, das sich nicht mehr unter ihrer Kontrolle befand. Dies bedeutete, dass mehr als 13000 Menschen vermisst wurden, erklärt Lutkovska. Sie nahm Verhandlungen mit den Machthabern in den nicht kontrollierten Gebieten auf, um diese Häftlinge zurück in die Ukraine zu überführen. Sie bedauert, dass nicht viele von ihnen zurückgebracht werden konnten, obwohl eine ansehnliche Zahl - etwa 20 Personen pro Monat oder 300 insgesamt - dank ihrer persönlichen Beteiligung überstellt wurde. In diesem Prozess war sie eine Art Garantin, eine neutrale Partei zwischen zwei Gegnern, die mit den Behörden sowohl in den kontrollierten als auch in den nicht kontrollierten Gebieten kommunizieren musste. Dies war eine seltsame, unkonventionelle Rolle für eine Ombudsperson. Sie dokumentierte auch systembedingte Probleme bei der Inhaftierung von Beschuldigten im Laufe der Ermittlungsverfahren, und trug zum juristischen Verständnis der ordnungsgemäßen Haftverfahren in der Ukraine bei.
Das wichtigste Anliegen während ihrer Arbeit als Ombudsfrau war für sie jedoch das, was Lutkovska als „ihr Lieblingskind“ bezeichnet - der nationale Präventionsmechanismus gegen Folter. Sie begann mit der Schaffung dieses Instruments im Mai 2012, nur einen Monat nach ihrer Wahl. Damit öffnete sie die verschlossenen Türen des Straf- und Maßregelvollzugs, der psychiatrischen Kliniken, einschließlich der Einrichtungen für Kinder und Senioren. Ihre Arbeit am Präventionsmechanismus erwies sich während der Maidan-Bewegung als äußerst wichtig. Damals wurden viele Menschen unter miserablen Bedingungen inhaftiert und Lutkovska und ihr Team hatten die Möglichkeit die Haftanstalten zu betreten und das Parlament über die dort herrschenden desolaten Zustände zu informieren. Sie setzte sich auch für die Infrastruktur der Gefängnisse ein, indem sie zur Schließung eines Ermittlungszentrums in einem 300 Jahre alten Gebäude in Lviv beitrug. In einem anderen Fall intervenierte sie und forderte das Gesundheitsministerium auf, die Bedingungen in einem Maßregelvollzug für Schwerverbrecher zu verbessern.
Auf die Frage, wie sie eine so schwere Arbeit bewältigen kann, hält Lutkovska nur einen Moment inne, dann antwortet sie: “Alle Fragen im Zusammenhang mit Menschenrechten waren zwar sehr interessant, aber erst als ich meine Karriere als Regierungsbeamtin begann, habe ich Menschenrechte wirklich verstehen können. Während meiner Zusammenarbeit mit der EMRK habe ich gesehen, dass der ukrainische Staat viele Verpflichtungen eingegangen war, die nie klar formuliert waren. Zum Beispiel muss der Staat nicht nur darauf verzichten, Menschen zu foltern, sondern auch Folter zu ahnden. Der Staat muss nicht nur rechtswidrige Verhaltensweisen verbieten, sondern auch umgehend Ermittlungen einleiten, wenn solche geschehen.”
Der Wandel geht vom Einzelnen aus
“Für mich stehen Menschenrechte in Relation zu Menschenwürde”, fährt sie fort. “Ohne das Verständnis für meine Rechte als Mensch ist es nicht möglich zu verstehen, was Menschenwürde bedeutet. Nur wer in der Lage ist das Recht auf Privatsphäre, Bildung oder einer freien Meinungsäußerung zu schützen, kann Menschenwürde als höchstes Gut verstehen.”
Für Lutkovska ist es wichtig, der ukrainischen Gesellschaft diese Ideale zu vermitteln. Die Ukraine ist sehr paternalistisch, sagt sie. Obwohl man beispielsweise in puncto Menschenrechte nationale Gerichte anrufen kann, ziehen es Menschen vor, sich an den Präsidenten zu wenden, weil sie ihn als Garant ihrer verfassungsmäßigen Rechte sehen. Dies ist ein vereinfachtes Verständnis: “Herr Präsident, bitte schützen Sie mein Recht auf Bildung.” Aber so funktioniert es nicht - man muss sich an das Gericht wenden, um Schutz zu erhalten.
Als Ombudsfrau erhielt sie 20 000 Briefe pro Jahr. Und es war schrecklich diese zu lesen und mit der Erklärung zu antworten, man müsse bereit sein vor Gericht für seine Rechte zu kämpfen, den Fall vorzubereiten und seine Rechte geltend machen. Die Leute wurden wütend und beschuldigten sie, sie würde ihnen Schutz verweigern. “Aber ihr müsst euch selbst schützen, ” sagt sie. Das hat sie dazu inspiriert, mit der ukrainischen Zivilgesellschaft an Bildungsinitiativen zu arbeiten, die erklären, wie man seine Menschenrechte geltend machen kann.
Es ist eine Frauenwelt
Als Ombudsperson schloss sie sich einer Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen an, die sich für die Ratifizierung der Istanbul-Konvention einsetzen. Viele Frauen in der Ukraine klagen über häusliche Gewalt, und sie trug dieses Problem ins Parlament und forderte die Abgeordneten auf, diese Konvention zu ratifizieren und die Situation zu verbessern. Nicht nur Frauen, sagt sie, sondern auch Männer klagen über diskriminierende Praktiken, insbesondere nach Scheidungen. Sie sagt, dass es in ihrem Land eine aktive Organisation von Männern gibt, die gerne bei ihren Kindern leben möchten, und sie gibt zu, dass sie sich als Frau, Mutter und Anwältin in einer seltsamen Lage befindet, aber sie versteht und sieht das Problem: Wenn Gerichte entscheiden, wo ein Kind wohnt, berufen sie sich auf das Kindeswohl, welches besagt, dass ein Kind nach der Scheidung bei der Mutter und nicht beim Vater aufwachsen soll. Das Problem war, dass eine solche Bestimmung in der Ukraine nie zu Papier gebracht wurde. Lutkovska wandte sich an den Obersten Gerichtshof und verlangte von den Richtern, diese Bestimmung nicht anzuwenden, weil sie eine Form der Diskriminierung sei. Was die Istanbuler-Konvention anbelangt, hat sich die orthodoxe Kirche dagegen ausgesprochen - und kein Politiker würde sich in der Ukraine gegen die Kirche stellen, sagt sie.
Andererseits hat die Ukraine eine spezielle Polizeieinheit (POLINA) gegen häusliche Gewalt eingerichtet. Es gibt auch neue Rechtsvorschriften mit einem besonders hohen Strafmaß bei häuslicher Gewalt, wenn Aggressionen im Spiel sind. Lutkovska meint, dass dieses neue Gesetz zwar rechtlich gut formuliert, aber unter den Richtern noch nicht sehr beliebt ist. Das Problem sieht sie hier in der kulturellen Norm, d.h. interne Konflikte sollen in der Familie und nicht öffentlich gelöst werden. Häusliche Gewalt ist kein Thema. Die Lösung liegt ihrer Meinung nach in der Zusammenarbeit mit den betroffenen Frauen und Männern. Je offener eine Gesellschaft mit diesem Thema umgeht, desto besser kann der Staat die Menschen schützen und die Menschenrechte verteidigen. “Ich kann mir vorstellen, dass es sowohl in den kontrollierten als auch in den nicht kontrollierten Gebieten nach Ende des Konflikts viele Berichte über häusliche Gewalt geben wird, weil die Soldaten nach ihrer Rückkehr mit Kriegstraumata und psychischen Belastungsstörungen zu kämpfen haben. Und die Inanspruchnahme psychiatrischer und psychologischer Hilfe ist in der Ukraine nicht üblich. Die Probleme werden in der Familie bleiben.”
Die Beendigung des Konflikts hat für Lutkovska jetzt Priorität. Die Situation im Land ist für sie sehr schmerzhaft: Binnenflüchtlinge, im Kampf Gefallene und Soldaten, die noch für die territoriale Integrität des Landes kämpfen. Doch davon lässt sie sich nicht abschrecken. “Es ist schwer für mich, denn ich weiß, dass es in diesem Land gute Menschen gibt, die keinen Krieg wollen, aber im Moment gibt es keinen politischen Willen, ihn zu beenden. Und wir haben Menschen, die rechtswidrig inhaftiert sind, wir haben Menschen, die seit sieben Jahren ihre Rente nicht erhalten haben, weil wir nicht über die Mechanismen verfügen, dieses Geld in den nicht kontrollierten Gebieten auszuzahlen: das ist ein Thema, das ich oft genug mit dem Sozialministerium diskutiert habe. Aber ich hoffe, dass dieser Krieg eines Tages im Interesse unserer Gesellschaft beigelegt werden kann. Und für mich als Jurist ist es wichtig, auf diese Zeit nach dem Krieg vorbereitet zu sein.”
Deshalb hat sie 2017 begonnen, sich auf die "Übergangsjustiz" vorzubereiten, ein sehr spezifischer Bereich, da es zwar viele internationale Standards gibt, aber jedes Land immer noch eigene Ansätze für eine Nachkriegsjustiz hat.
Was rät sie Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen wollen? Sie müssen verstehen, dass dies ein sehr schwieriges Feld ist, sagt sie. “Staat und Gesellschaft wird es ihnen nicht danken, denn Menschenrechte sind Allgemeingut und gelten für jeden, nicht nur für die Leute in der eigenen Partei oder den Gleichgesinnten.” Sie erzählt von einem Fall, den sie kürzlich übernommen hat. Sie musste die Position einer toxischen ukrainischen politischen Partei vertreten. Für ihre Haltung wurde sie heftig kritisiert, aber sie wehrt sich dagegen: “Das Versammlungsrecht - um das es sich hier handelt - ist ein Grundrecht, nicht nur für Sie oder für Menschen, die dieselbe Ideologie teilen. Es geht um uns alle, und ich werde das Versammlungsrecht schützen, auch wenn ich mit den Ansichten der politischen Partei nicht einverstanden bin. Und dies ist nur eines von vielen Beispielen für die Komplexität meines Fachgebiets. Trotzdem muss man bereit sein, Menschenrechte zu verteidigen.”
Lutkovska setzt den Kampf für diese Ideale in ihrer Privatpraxis fort, wo sie Seite an Seite mit ihrer Tochter arbeitet. Als ihre Tochter 16 Jahre alt wurde, machte ihr Lutkovska den Vorschlag, die Rechtsakademie in Kiew zu besuchen, um sich mit den Aufgaben einer Anwältin vertraut zu macht, und zu entscheiden, ob sie daran Gefallen finden könne. “Als ich aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurde und meine eigene Anwaltskanzlei eröffnete, kam sie zu mir, um mit mir zusammenzuarbeiten, und es ist großartig, meine Tochter als Profi an meiner Seite zu haben,” sagt sie. Vor kurzem arbeiteten sie gemeinsam an einem interessanten Fall. Es ging um die Anfechtung der Haft einer des Mordes beschuldigten Person. Diesen Fall haben sie gewonnen. Ihre Tochter ist auch auf EU-Recht spezialisiert.
Auf die Frage, ob sie glaubt, dass sie die Inspiration für die Karriere ihrer Tochter als Anwältin für EU-Recht war, lächelt Valeriia Lutkovska schüchtern und zuckt mit den Schultern: „Das will ich doch hoffen.“
Daran kann es kaum einen Zweifel geben.