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Träumerin und Macherin
Die Menschenrechtsaktivistin, die zur Sprecherin des Obersten Gerichtshofs wurde, erklärt, warum sie glaubt, dass das persönliche Beispiel für Veränderungen ausschlaggebend ist.
Die Pressesekretärin des armenischen Verfassungsgerichts, Eva Tovmasyan, ist eine Meisterin der Kommunikation. Sie verfügt über eine umfangreiche Erfahrung im zivilgesellschaftlichen Bereich und fühlt sich in der Politik heimisch. Sie erzählt, wie sie dazu kam, sich in der Zivilgesellschaft zu engagieren, und warum sie es für ihre Pflicht hält, andere zu inspirieren.
Die Stimme der Justiz
Heute spricht Eva im Namen der höchsten Justizbehörde Armeniens, leitet die Kommunikation mit Journalisten und legt die Kommunikationsstrategie des Gerichtshofs fest. Sie findet auch noch Zeit, an Schulungen teilzunehmen und wirkt an vielen Initiativen zur politischen Bildung aktiv mit.
Aber in ihrer Jugend wollte Eva Chirurgin werden. Ihre Mutter entschied sich jedoch für einen anderen Weg, weil sie der Meinung war, der Arztberuf sei für eine Frau nicht geeignet. Ärzte müssten nachts arbeiten und Eva könne keine Familie gründen, da sie immer beschäftigt sein würde. Eva führt diese Meinung nicht auf konservative Überzeugungen zurück, sondern auf die Erfahrung ihrer eigenen Mutter, deren Mutter - Evas Großmutter - eine vielbeschäftigte Ärztin war. Also beschloss Eva, Fremdsprachen zu studieren.
2008 wurde Armenien nach den Präsidentschaftswahlen von zahlreichen regierungsfeindlichen Protesten erschüttert. Eva, die damals noch jung war, wurde von den Menschenrechtsverletzungen, die in dieser Zeit im Land stattfanden, zutiefst beeinflusst - 10 Demonstranten wurden nach einem Zusammenstoß zwischen der Armee und Zivilisten getötet. Über das Land wurden der Ausnahmezustand und ein Demonstrationsverbot verhängt. Auch die Medienzensur wurde massiv verschärft. Eva schloss sich der pro-demokratischen Bewegung an und interessierte sich nach und nach für den Schutz der Menschenrechte, wobei die Politik einen zentralen Platz in ihrem Leben einnahm. Ihre Mutter war von dieser Entwicklung nicht begeistert und fragte sie, ob sie die nächste Margaret Thatcher werden wolle. “Diese Bemerkung hat mich wirklich ausgebremst und ich hatte viele Zweifel, aber schließlich hat auch meine Mutter ihre Meinung geändert, und wir haben seitdem viele Gespräche geführt”, sagt Eva. Ihre Berufung war schließlich stärker als alles andere. Eva glaubt, dass dies im Leben oft der Fall ist: Egal wie sehr man versucht, etwas - oder jemand - anderes zu sein, früher oder später landet man auf dem richtigen Weg.
Frauen hinter den Kulissen
“In den Buchhandlungen in Armenien gibt es blaue und rosafarbene Bücher mit Berufen für Jungen und für Mädchen. Sie sind der pure Alptraum. Frauen sollen Friseurinnen, Krankenschwestern und Lehrerinnen werden. Ich finde es genauso inakzeptabel, Jungen bestimmte Berufe zuzuweisen”, erzählt Eva. Sie ist der Meinung, dass wir diese Haltungen täglich hinterfragen und versuchen müssen, uns gegenseitig dazu zu bringen, diese Stereotypen zu überwinden.
Diese Einstellungen spiegeln sich bis zu einem gewissen Grad in der Zusammensetzung des Verfassungsgerichts wider: Es hat neun Richter, acht davon sind Männer. Aber laut Eva sind die Justizangestellten bei Gericht, die Leiter der Abteilungen und Referate mehrheitlich weiblich. Als Frau, sagt sie, muss man immer Druck machen, um bemerkt zu werden.
Eva gibt ein Beispiel: Eine bevorstehende öffentliche Anhörung erforderte mehr Sicherheit im Gebäude. Zur Sicherstellung der Logistik, kam eine Gruppe von Polizeibeamten, um mit den Leitern der Dienststellen zu sprechen, und Eva war die einzige Frau in der Gruppe. Keiner wollte ihr die Hand schütteln. “Männer schütteln sich die Hand und nennen sich beim Namen, so lernen sie sich kennen, das ist die Unternehmenskultur. Und wenn in einer Sitzung eine Frau in einem von Männern dominierten Umfeld anwesend ist, weiß niemand so richtig, wie man sie begrüßen soll. Keiner der Polizeibeamten kannte also das Protokoll und man ignorierte mich einfach. Ich musste sie wissen lassen, dass sie mir die Hand schütteln und mich akzeptieren können.”
Eva weigert sich, hinter den Kulissen zu bleiben oder ignoriert zu werden. Sie sagt, dass sie in Situationen wie dieser immer sehr lautstark handelt. “Ich finde es lustig, wenn Männer an einem Tisch zum Beispiel anfangen, über Politik zu reden und nur mit anderen Männern kommunizieren. Wenn man sich also einmischen will, muss man um seinen Platz in der Diskussion und der Debatte kämpfen. Ich versuche immer, das Ganze auf die leichte Schulter zu nehmen und nicht aggressiv zu reagieren, denn so ist es viel einfacher Vorurteile abzubauen.”
Armenien stützt sich auf bestimmte Quotenkriterien für die Präsenz von Frauen, aber Eva glaubt an einen noch besseren Ansatz: die Förderung der Beteiligung von Frauen an der Basis. Wenn die Gesellschaft es tut, werden Frauen nicht mehr nur hinter den Kulissen agieren oder nur Instrumente sein, um nominelle Quoten zu erfüllen. Wenn sich die Menschen engagieren, so Eva, wird die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt proportional vertreten sein. Sobald die notwendigen Schritte auf Parteiebene unternommen werden, wird es den „großen Kampf“ um die Gleichstellung nicht mehr geben, denn der natürliche Übergang vom bürgerlichen Engagement zu den Parteistrukturen wird damit enden, dass andere Menschen ins Parlament einziehen.
Weg vom Schwarz-Weiß-Denken
“Ich weigere mich, die Welt als männlich und weiblich zu sehen”, sagt Eva. Was ihre eigene Rolle als Repräsentantin angeht, so deutet sie an, dass sie eines Tages in Erwägung ziehen könnte, ihre Volksgruppe zu vertreten und zu versuchen, bessere Lösungen und Entscheidungen zu finden. Im Moment konzentriert sie sich jedoch auf ihre aktuelle Position und informiert über verschiedene Projekte, auf die sie stolz ist.
Eine solche Initiative ist das Ed-Camp, oder das Bildungscamp. Als sie eines Tages eine Pause von der Arbeit machte, traf sie einen Bekannten, der ein großes Projekt im Sinn hatte und nach Partnern suchte. Seine Idee war es, 500 armenische Lehrer aus dem ganzen Land zu versammeln und mit ihnen über die Modernisierung des Bildungssystems und die Liberalisierung des Lehrplans zu sprechen sowie Lehrern und Kindern zu helfen, moderne Technologien und Methoden einzusetzen. Eva verstand dies als Zeichen und schloss sich der Initiative an. Dann brach die Pandemie aus, aber sie schafften es trotzdem über 45 000 Teilnehmer zu rekrutieren. Das Feedback fiel äußerst positiv aus: Die Lehrkräfte sagten, es sei sehr hilfreich gewesen andere Fachleute zu treffen und von Kollegen zu lernen. Und es führte zudem zu einer Verbesserung der Schulbildung.
Eva ist auch stolz auf die Schulungen, welche sie in ländlichen Regionen anbietet. So hilft sie den Menschen das Leben in ihren eigenen Gemeinden zu organisieren und zu verbessern. Als Beispiel nennt sie das Projekt “Europa im Koffer”, bei dem junge armenische und im Ausland lebende Experten nach Armenien zurückkehren, um ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterzugeben, die Regionen zu bereisen und sich mit jungen Armeniern vor Ort zu treffen, um bestimmte Themen wie Basisaktivismus und Bildung zu diskutieren. Viele Menschen haben daran teilgenommen und gründen nun eigene Initiativen, um in ihrem Umfeld aktiv etwas zu verändern.
Sie ist auch dankbar für die Lernmöglichkeiten in ihrer neuen Position, die sich manchmal als wahre Herausforderungen entpuppen. Sie muss wissen, was sie sagen soll und was nicht, und wie und wann sie es sagen soll. Dies alles unter einen Hut zu bringen, ist eine heikle Angelegenheit, insbesondere wenn man eine staatliche Institution vertritt. Es ist manchmal knifflig, und verlangt ihr viel Wissen ab. Sie ist keine Juristin, aber sie vertritt eine juristische Institution, so dass ein immenser Lernaufwand, Diskussionen und die Übersetzung der juristischen Perspektive in die Sprache der Bürger und Journalisten erforderlich sind.
Auf die Frage, ob die Medien eines der berüchtigten Klischees verwenden, mit denen Frauen in prominenten Positionen konfrontiert werden, verneint Eva mit einem Lächeln und sagt, dass ihr das noch nie passiert ist, obwohl sie gesehen hat, wie viele brillante junge armenische Frauen sexistisch abgestempelt wurden. Aber sie betont, wie wichtig es sei, das Wort zu ergreifen, wenn dies der Fall ist. “Meistens will der Mensch, der vor Ihnen steht, sie gar nicht beleidigen. Vielmehr möchte er ihnen ein aufrichtiges Kompliment machen. Fordern Sie ihn einfach sanft auf sich auf Ihre beruflichen Eigenschaften zu beschränken, wenn er ihnen etwas Nettes sagen will.”
Armenien ist im Wandel
In der armenischen Gesellschaft gibt es bereits ein gewisses Verständnis für diese Themen. Doch die Veränderungen sind sowohl positiv als auch negativ. Aufgrund der Entwicklung der sozialen Medien und der Auslandsreisen sind immer mehr junge Frauen in Führungspositionen zu sehen. Aber nicht jede Frau sollte eine Führungsposition innehaben, sagt Eva. “Jede Frau muss entscheiden, was das Beste für sie ist und welche Möglichkeiten sie hat. Vielleicht möchte eine Frau Hausfrau und Mutter werden, und das sollte ihr freistehen. Es ist keine Schande Hausfrau und Mutter werden zu wollen. Aber es ist auch keine Schande, wenn eine Frau in ihren Dreißigern glücklich ist, ohne davon zu träumen, einen Mann zu finden oder Kinder zu kriegen. Mein Traum ist es, dafür zu sorgen, dass jeder die Wahl hat, wie auch immer diese Wahl aussehen mag. Frauen sollten über alle Mittel und Möglichkeiten verfügen, um träumen zu können und für die Verwirklichung dieser Träume zu kämpfen.”
Aber es gibt auch Herausforderungen. Eva spricht ein wenig bekanntes Phänomen an: geschlechtsselektive Abtreibungen. Für viele Armenier ist es ein „Muss“, mindestens einen männlichen Nachkommen zu haben, und was Eva als „schreckliches Phänomen“ bezeichnet, spiegelt diese Überzeugung wider. Wenn armenische Familien kein weibliches Kind haben wollen, verlangen sie einen Abbruch der Schwangerschaft. Dank der Bemühungen zahlreicher Nichtregierungsorganisationen sowie engagierter Einzelpersonen und Politiker konnte das Bewusstsein so weit geschärft werden, dass die notwendigen Gesetzesänderungen bereits in Kraft sind, um nicht nur unmenschliche Vorgehensweisen, sondern auch eine drohende demografische Krise abzuwenden.
Laut Eva gibt es keine einfache Antwort auf die Frage, warum dieses Phänomen in Armenien weit verbreitet ist. „Meiner Meinung nach ist es ein kulturelles Vorurteil der patriarchalen Gesellschaft. Männer erben in der Familie und setzen die „Familienlinie“ fort. Für eine Familie ohne männliche Nachkommen kann das eine frustrierende Wirkung haben und man kann sich letztendlich für die Entfernung eines weiblichen Fötus entscheiden. Das ist ein bitteres Thema in Armenien.“
Im vergangenen Jahr war sie vor allem an Schulungen beteiligt, in denen sie die Grundsätze des Feminismus und der Antidiskriminierungsbewegung erläuterte. Der Schwerpunkt wurde hierbei auf dem politischen Aktivismus gelegt. “Ich helfe den Menschen um mich herum zu lernen, was andere Aktivisten mir beigebracht haben. Es ist eine Verpflichtung, dieses Wissen weiterzugeben. Ich glaube auch daran, dass es wichtig ist, sein Leben so zu leben, wie man es vorleben sollte; das ist an und für sich schon Aktivismus. Sei immer in einem Gespräch präsent, melde dich zu Wort, wenn du mit Ungerechtigkeiten konfrontiert wirst, biete eine alternative Sichtweise an, komme zu Hilfe, wenn du siehst, dass jemand eine junge Frau einschüchtert. Steh ihr zur Seite und hilf ihr zu verstehen, dass sie genug Macht hat, um für sich selbst einzutreten, und dass es immer Menschen gibt, die sie unterstützen werden.”
“Die Art und Weise, wie die feministische Debatte in einigen Gesellschaften, Gruppen und Gemeinschaften geführt wird, gefällt mir nicht. Wenn man einen Schritt zurücktritt und sich umschaut, sieht man nur einige zu Recht wütende Frauen, die versuchen, ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit zu erheben, aber am Ende nur ins Leere schreien. Und manchmal resultiert unsere Unfähigkeit, Menschen von dem zu überzeugen, was richtig ist, genau aus dieser negativen Sprache. Mein Standpunkt dazu war immer, dass man sein Leben beispielhaft leben sollte - nicht, weil man etwas Besonderes ist und ein Vorbild sein sollte, sondern weil man für andere ein Beispiel sein kann. Frau sein ist keine zweitrangige Rolle, es bedeutet nicht, dass jemand etwas für dich lösen muss. Wir holen uns nur Unterstützung als Menschen. Emanzipation darf mit Isolation nicht gleichgestellt werden. Das Leben hat viele Facetten: manchmal sind wir glücklich, manchmal - wütend. Aber es sollte kein Zögern geben, wenn wir träumen und für unsere Ziele kämpfen.”
Und wie sehen ihre Zukunftspläne aus? Sie lacht und sagt: “Premierministerin von Armenien zu werden. Ich sage es immer im Scherz, wenn mir jemand diese Frage stellt. Und dann halte ich kurz inne und frage mich, warum nicht? Aber im Moment glaube ich an die Verbreitung von Ideen, weil ich einst von denjenigen beeinflusst wurde, die über ihre Idee von staatsbürgerlicher Bildung und Verantwortung sprechen wollten. Ich bin in diese Phase meines Lebens gekommen, weil Menschen in meine Schule gekommen sind und mich im Gespräch über unsere Verantwortung als Bürger aufgeklärt haben. Heute möchte ich diejenige sein, die andere inspiriert, motiviert und mit Enthusiasmus ansteckt. Ich liebe mein Land und bin davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft eine höhere Ebene erreichen können, wenn wir uns zusammentun und daran arbeiten, unser Leben zu verbessern.”
Das erste Zukunftsprojekt, das Eva in den Sinn kommt, ist die Einrichtung eines Karrierezentrums für Politiker. “Das ist der erste Gedanke, der mir in den Sinn gekommen ist. Vielleicht sollte ich auf meine Intuition hören und das auf meine To-Do-Liste setzen?” sagt sie.
Vielleicht. Und ich war froh, helfen zu können.